Bewaffnete Taliban hinter einer verhüllten Frau auf einem Markt im Bezirk Baharak in der Provinz Badakhshan, Afghanistan.  © WAKIL KOHSAR / AFP / picturedesk.com
Bewaffnete Taliban hinter einer verhüllten Frau auf einem Markt im Bezirk Baharak in der Provinz Badakhshan, Afghanistan. © WAKIL KOHSAR / AFP / picturedesk.com
Erfolg

EuGH-Urteil ist wichtiger Fortschritt für den Schutz von Frauen aus Afghanistan

Am 4. Oktober 2024 fiel am Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein bedeutendes Urteil für Frauenrechte und für das Asylsystem: Die diskriminierenden Maßnahmen des Taliban-Regimes gegen Frauen und Mädchen in Afghanistan werden in ihrer Kumulierung als Verfolgung anerkannt. Künftig reicht für die Zuerkennung des Asylstatus, dass eine Frau von diesen Maßnahmen in ihrem Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, ohne dass zusätzliche individuelle Umstände vorliegen müssen. Anstoß für das Urteil waren zwei Fälle aus Österreich, die von Rechtsanwältinnen des Netzwerks Asylanwält*innen vertreten werden – eine durch Caritas, Diakonie und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen getragene Initiative, darunter auch Amnesty International, die schutzsuchenden Menschen in Österreich anwaltliche Vertretung ermöglicht.

Systematische Verfolgung aufgrund des Geschlechts

Drei Jahre nach der Machtergreifung treten die Taliban die Menschenrechte insbesondere von Frauen nach wie vor ungehemmt mit Füßen: Geschlechtsspezifische Verfolgung, Folter, willkürliche Inhaftierung und Zensur sind an der Tagesordnung. Frauen wurden völlig aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt. Zuletzt verbot das Taliban-Regime Frauen und Mädchen mit einer Reihe neuer drakonischer Gesetze sogar Singen, Vorlesen oder lautes Reden in der Öffentlichkeit. Die Taliban verfolgen Frauen und Mädchen schwerwiegend und systematisch aufgrund ihres Geschlechts. Gekoppelt mit entsprechenden politischen Maßnahmen bildet dies ein System der Unterdrückung, das Frauen und Mädchen im ganzen Land unterjocht und ausgrenzt. Recherchen von Amnesty International haben außerdem ergeben, dass die Anzahl der Kinderehen, Früh- und Zwangsverheiratungen im Land unter der Herrschaft der Taliban immer stärker ansteigen.

Silberstreif am Horizont inmitten von Untätigkeit

Amnesty International hat wiederholt gefordert, dass die von den Taliban eingeführten erheblichen Einschränkungen und rechtswidrigen Beschneidungen der Rechte von Frauen und Mädchen untersucht werden müssen, auch als mögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch die Verbrechen der Taliban bleiben straffrei, die internationale Gemeinschaft ist weitgehend untätig, während Frauen und Mädchen in Afghanistan in diesem endlosen Alptraum gefangen sind.

Amnesty International Österreich hat sich für die Aufnahme besonders schutzbedürftiger Menschen in Österreich sowie für sichere Fluchtrouten ausgesprochen. Doch auch diese Aufforderung an die Regierung, ihre Bemühungen um humanitäre Aufnahmeprogramme zu verstärken, ist bisher weitgehend verhallt.

Wenn man sich den Menschenrechten verpflichtet sieht oder zumindest bereit ist, Entscheidungen des europäischen Höchstgerichts zu respektieren, wird man nun auch in Österreich Frauen aus Afghanistan ihren Anspruch auf Asyl nicht verwehren.

Sarah Moschitz-Kumar, Rechtsanwältin beim Netzwerk Asylanwält*innen

In dieser zunehmend besorgniserregenden Lage ist das Urteil des EuGH ein großer Fortschritt für den Schutz afghanischer Frauen, die vor Unterdrückung fliehen. Der EuGH urteilte, dass Zwangsverheiratung, die eine Form der absolut verbotenen Sklaverei darstellt, und der fehlende Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen, schon für sich genommen als Verfolgung einzustufen seien. Auch die Pflicht, sich vollständig zu verhüllen, die Einschränkung des Zugangs zu Bildung, Beruf und ärztlicher Versorgung und der Ausschluss vom politischen Leben sind aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und der bewussten und systematischen Anwendung als Verfolgungshandlung anzusehen.

„Frauen und Mädchen in Afghanistan sind tagtäglich unvorstellbaren Beschneidungen ihrer Rechte ausgesetzt. Diese Frauen und Mädchen, die durch das Taliban-Regime ihrer Zukunft beraubt wurden, brauchen dringend Schutz. Das Urteil des EuGH ist dafür ein wichtiger Schritt und eine motivierende Nachricht für uns und alle, die sich für die Rechte von Frauen und von Schutzsuchenden einsetzen, weiter mit aller Kraft für Veränderung zu kämpfen. Wir dürfen die Frauen in Afghanistan nicht im Stich lassen“, sagt Aimée Stuflesser, Expertin für Asyl und Migration bei Amnesty International Österreich.

Das Urteil des EuGH basiert auf zwei Fällen aus Österreich, bei denen die rechtliche Vertretung durch zwei Rechtsanwältinnen des Netzwerks Asylanwält*innen erfolgt. Das Netzwerk Asylanwält*innen ermöglicht mittellosen schutzsuchenden Menschen in Österreich in schwierigen Einzelfällen qualifizierte Vertretung. Ziel ist es auch, Grundsatzentscheidungen herbeizuführen, die für viele Menschen anwendbar sind – das aktuelle Urteil ist dafür ein besonders weitreichendes Beispiel. Projektträger des 1993 gegründeten Netzwerks sind Caritas und Diakonie. Das Netzwerk besteht aus 11 im Fremden- und Asylrecht spezialisierten Rechtsanwält*innen aus Österreich und der Koordinationsstelle der Caritas Österreich in Wien. Auch Amnesty International, die asylkoordination Österreich, die Volkshilfe und viele weitere Organisationen unterstützen das Netzwerk. Das UNHCR ist strategischer Partner.

„Mit dieser wichtigen und richtigen Entscheidung des EuGH steht fest, dass Frauen aus Afghanistan aufgrund der sie dort völlig entrechtenden Maßnahmen allein aufgrund ihres Geschlechts Anspruch auf bestmöglichen Schutz haben. Wenn man sich den Menschenrechten verpflichtet sieht oder zumindest bereit ist, Entscheidungen des europäischen Höchstgerichts zu respektieren, wird man nun auch in Österreich Frauen aus Afghanistan ihren Anspruch auf Asyl nicht verwehren,“ so Sarah Moschitz-Kumar, Rechtsanwältin beim Netzwerk Asylanwält*innen, die einen der beiden Fälle vor dem EuGH vertritt.