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„Bleiben Sie zuhause“ forderte die Bundesregierung vor rund zwei Jahren die Österreicher*innen im Zuge des ersten Lockdowns auf – zum eigenen Schutz und dem der Anderen. Doch nicht alle Menschen hatten ein solches Zuhause und damit diesen Schutz, nicht alle hatten einen Platz zum Wohnen.
Dabei ist Wohnen ein Menschenrecht – abgeleitet aus dem Recht einer*s jeden Einzelnen auf einen angemessenen Lebensstandard und verankert im Artikel 11 (1) Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (kurz UN-Sozialpakt).
„Dieser Anspruch ist universell und gilt für alle Menschen, auch wenn es die wenigsten wissen – offenbar auch die Regierungsverantwortlichen nicht“, bringt Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International, das aktuelle Thema auf den Punkt. „Wie sonst ist es zu erklären, dass Menschen wie Bittsteller*innen um Notschlafstellen und Sozialleistungen anstehen müssen, wo sie doch eigentlich nur ihre Rechte durchsetzen wollen“, kritisiert Schlack deutlich. In einem umfangreichen Bericht hat die Menschenrechtsorganisation nun die Situation von Wohnungs- und Obdachlosigkeit – und insbesondere die Frage der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der Wohnungslosenhilfe – in Österreich untersucht und kommt zu dem Schluss, dass das Menschenrecht auf Wohnen hierzulande nicht ausreichend gewährleistet ist.
„Es geht nicht darum, dass der Staat allen Menschen eine Wohnung zur Verfügung stellt, sondern dass er Voraussetzungen und ein System schafft, in dem Wohnen für jeden und jede möglich wird“, stellt die Amnesty-Geschäftsführerin klar. Das Versagen des Staates lässt sich in Zahlen ablesen: Laut Statistik Austria waren im Jahr 2020 knapp 20.000 Menschen als wohnungs- und obdachlos registriert, knapp ein Drittel davon waren Frauen – und die Dunkelziffer ist um einiges höher, denn die Statistik erfasst bei weitem nicht alle Formen der Wohnungslosigkeit.
Es geht nicht darum, dass der Staat allen Menschen eine Wohnung zur Verfügung stellt, sondern dass er Voraussetzungen und ein System schafft, in dem Wohnen für jeden und jede möglich wird.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International
Um das Problem von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Österreich ernsthaft zu lösen, braucht es laut Amnesty in einem ersten Schritt vor allem einen Paradigmenwechsel: „Menschen, die wohnungslos sind, sind nicht einfach „selbst schuld“. Im öffentlichen Diskurs werden sie oft stigmatisiert und ausgegrenzt, die Unterstützung für sie als ein Almosen des Staates gesehen. Aber es sind eben nicht „Einzelschicksale“ die es zu bedauern gilt – sondern strukturelle Missstände, die zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit führen und die die Regierung zu verantworten hat“, betont Annemarie Schlack. Das Problem stellt sich zunächst auf rechtlicher Ebene: „Das Recht auf angemessenes Wohnen ist in Österreich weder verfassungsrechtlich verankert noch existiert eine bundesweite Rechtsgrundlage für die Bereitstellung von Wohnungslosenhilfe.“ Auch könne das Recht auf Wohnen nicht eingeklagt werden, wofür Österreich bereits vom UN-Fachausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte kritisiert wurde: „Es gehört zu den sofortigen Verpflichtungen von Staaten, in Bezug auf das Recht auf angemessenes Wohnen wirksame Rechtsmittel sicherzustellen, denn es kann kein Recht ohne einen Rechtsbehelf zu seinem Schutz geben“, heißt es da.
Amnesty kritisiert auch die Fragmentierung der Wohnungslosenhilfe, die in der Zuständigkeit der einzelnen Bundesländer liegt. „Es macht einen – zum Teil gravierenden – Unterschied, ob ich in Wien oder in Tirol wohnungslos bin“, bringt es Teresa Hatzl, Advocacy & Research Officer, auf den Punkt. Die neun unterschiedlichen Regelungen legen fest, welche Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe verfügbar sind und welche allgemeinen Anspruchs- und Zugangsbestimmungen gelten. Während manche Bundesländer ausreichend Notunterkünfte zur Verfügung stellen, fehlen sie in anderen Bundesländern weitgehend. Die Fragmentierung wird durch das Fehlen einer nationalen Wohnstrategie noch verschärft, die für die Bereitstellung von Wohnraum entscheidend wäre und auch für die Behebung von Lücken und Ungleichheiten im bestehenden System der Wohnungslosenhilfe eine bedeutende Rolle spielen würde.
Es macht einen – zum Teil gravierenden – Unterschied, ob ich in Wien oder in Tirol wohnungslos bin.
Teresa Hatzl, Advocacy & Research Officer bei Amnesty International Österreich
Neben der Verfügbarkeit ist auch die diskriminierungsfreie Zugänglichkeit wesentlich für die Einhaltung des Rechts auf Wohnen. Amnesty betont, dass die gesetzlichen Anspruchskriterien für den Zugang zu Unterstützungsangeboten der Wohnungslosenhilfe genau dieses Recht verletzen: Diese basieren im Wesentlichen auf den Zugangskriterien für Sozialhilfe, was zur Folge hat, dass bestimmte Personen und Gruppen vorsätzlich von vornherein ausgeschlossen werden. Das komplizierte Regelwerk führt unter anderem dazu, dass österreichische Staatsangehörige, die sich nicht im jeweiligen Bundesland aufgehalten haben, in dem sie Wohnungslosenhilfe beantragen, oder etwa EU-Bürger*innen, die die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllen, von der Wohnungslosenhilfe ausgeschlossen sind.
Abseits der zum Teil fehlenden Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Wohnungslosenhilfe zählt Amnesty International in dem Bericht auch eine Reihe von strukturellen Faktoren in Österreich auf, die zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit führen. So verteuert etwa Armut Wohnraum relativ, da Menschen, die in Armut leben oder armutsgefährdet sind, im Schnitt deutlich mehr ihres verfügbaren Haushaltseinkommens für Wohnraum ausgeben als der österreichische Durchschnitt – und aufgrund der Wohnkostenüberlastung potenziell noch weiter in die Armut schlittern. „Es braucht existenzsichernde Einkommen, aber auch leistbare Wohnungen. Es braucht einen Wohnungsmarkt, in dem für alle Menschen Platz ist, auch für Menschen mit ganz niedrigen Einkommen. Das sind die großen strukturellen Herausforderungen, denen wir als Sozialorganisation tagtäglich begegnen, um Wohnungslosigkeit zu beenden und die Gesellschaft inklusiver und gerechter zu machen“, erzählt Daniela Unterholzner, Geschäftsführerin von neunerhaus im Rahmen der Berichtspräsentation von ihren Erfahrungen aus der Praxis.
Das Sozialhilfe-Grundgesetz ist weder dazu geeignet, Armut zu verhindern noch allen Menschen in Österreich ein Leben in Würde sicherzustellen, womit es kein legitimes Ziel verfolgt.
Teresa Hatzl, Advocacy & Research Officer bei Amnesty International Österreich
Neben dem immer brisanter werdenden Mangel an leistbarem Wohnraum ist es vor allem das vor drei Jahren verabschiedete Sozialhilfe-Grundgesetz, das laut Amnesty die Situation von Betroffenen verschärft: „Insbesondere der restriktive Geltungsbereich und der Höchstbetrag der Sozialhilfe sowie die gesetzlich festgelegten Prozentsätze für wohnungsbezogene Kosten erschweren den Zugang zu leistbarem, angemessenem Wohnraum für Menschen, die in Armut leben.“ Das Urteil von Amnesty fällt vernichtend aus: „Das Sozialhilfe-Grundgesetz ist weder dazu geeignet, Armut zu verhindern noch allen Menschen in Österreich ein Leben in Würde sicherzustellen, womit es kein legitimes Ziel verfolgt“, erklärt Hatzl nüchtern. Dazu kommt, dass die Beträge im Sozialhilfe-Grundsatzgesetz nicht angemessen sind und die Menschen damit vor eine Wahl stellen: entweder sie finanzieren ihre Lebenserhaltungs- oder ihre Wohnkosten. Daher fordert auch die Armutskonferenz – ein Netzwerk von über 40 sozialen Organisationen, dem auch Amnesty International angehört – eine grundlegende Reform der Sozialhilfe.
Auch geschlechtsspezifische Ungleichheiten zählen zu den relevanten strukturellen Problemen, für die Österreich verantwortlich ist. So etwa das starke geschlechterspezifische Lohngefälle, das in Österreich nach wie vor bei 19 Prozent liegt und damit zu den höchsten im EU-Vergleich zählt, aber auch Teilzeitarbeit, unbezahlte Sorgearbeit und Altersarmut von Frauen. Auch gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit von Frauen und geschlechtsspezifischer Gewalt, weil Frauen – wenn sie aus Gewaltbeziehungen ausbrechen – stärker gefährdet sind, wohnungs- und obdachlos zu werden – wobei sie dann zuerst oft versuchen, bei Angehörigen oder Freund*innen unterzukommen. „Wir sprechen dann von einer sogenannten verdeckten Wohnungslosigkeit. Die betroffenen Frauen scheinen in keinen Statistiken auf und haben dadurch auch keinen Anspruch auf Wohnungslosenhilfe“, skizziert Teresa Hatzl das Problem, das auch dadurch verstärkt wird, dass es nicht ausreichend Plätze in Frauenhäusern gibt, wie Amnesty ebenfalls in dem Bericht festhält.
Neben Frauen sind es laut Amnesty-Bericht vor allem junge Erwachsene, die aufgrund struktureller Risikofaktoren von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen sind. „Der Staat versagt hier in seiner Verpflichtung, für all diese Risikogruppen spezifische Betreuungs- und Unterstützungsangebote zu schaffen“, kritisiert die Menschenrechtsorganisation.
Analysiert wurden in dem Bericht auch die verschiedenen Modelle und Möglichkeiten der Wohnungslosenhilfe, eine davon ist – als menschenrechtsbasierter Ansatz – Housing First: “Zuerst die eigene Wohnung” – so simpel ist der Ansatz von Housing First, den neunerhaus gemeinsam mit dem Fonds Soziales Wien bereits 2012 nach Wien gebracht hat und der ehemals wohnungslose Menschen wieder in die eigenen vier Wände und damit zurück in die Mitte der Gesellschaft bringen soll. „Wir bei neunerhaus sind der Meinung, dass man nur mit einer eigenen Wohnung Wohnungslosigkeit nachhaltig und dauerhaft beenden – und Menschen einen Neuanfang und ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen kann“, so Daniela Unterholzner, neunerhaus Geschäftsführerin. „Wohnen als Menschenrecht – Housing First ist für uns die stärkste, konsequenteste und nachhaltigste Strategie, um Wohnungslosigkeit österreichweit dauerhaft zu beenden und wird dem neunerhaus-Zugang ‚Hilfe auf Augenhöhe‘ absolut gerecht.“
Der Bericht von Amnesty International endet mit einer Reihe von Empfehlungen und Forderungen an den Gesetzgeber, um das Recht auf Wohnen in Österreich sicher zu stellen und den völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Die Menschenrechtsorganisation fordert unter anderem die verfassungsrechtliche Verankerung des Rechts auf Wohnen, um damit auch das Bewusstsein zu schärfen, dass es sich hier um keine staatlichen Almosen handelt, sondern um eine menschenrechtliche Verpflichtung Österreichs. Weiters muss eine nationale Housing-Strategie verabschiedet werden, und zwar unbedingt unter Einbindung von Menschen mit Erfahrung in der Wohnungs- und Obdachlosigkeit, außerdem müssen künftig systematisch relevante Daten erhoben werden, damit die zuständigen Entscheidungsträger*innen ein vollständiges Bild der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Österreich haben und Maßnahmen entsprechend ausgestalten. Last but not least fordert Amnesty die Bereitstellung einer Vielfalt an Angeboten in der Wohnungslosenhilfe in ganz Österreich - speziell auch für Frauen und junge Erwachsene.
Rund um die Veröffentlichung des Berichts lanciert Amnesty International eine Informations- und Mobilisierungskampagne, um das Thema einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
neunerhaus wurde 1999 gegründet und ist eine Sozialorganisation in Wien. neunerhaus ermöglicht obdachlosen und armutsgefährdeten Menschen ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben mit medizinischer Versorgung, Wohnen und Beratung. Ziel ist es, Betroffenen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, um ihre Lebenssituation nachhaltig zu verbessern. In drei neunerhaus Wohnhäusern sowie mit Housing First und mobiler Sozialarbeit werden jährlich mehr als 900 ehemals obdach- und wohnungslose Menschen betreut und beraten.