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© Mohammad Rakibul Hasan

Presse © Mohammad Rakibul Hasan

Myanmar: Willkürliche Luftangriffe töten Zivilist*innen, darunter Kinder

7. Juli 2020

Zusammenfassung

  • Neues Beweismaterial belegt schwere Menschenrechtsverletzungen
  • Willkürliche Angriffe, Inhaftierungen und Folter bei Militäreinsätzen
  • Fehlender Schutz gegen COVID-19 während Internetsperre
  • Amnesty International fordert Untersuchung durch Internationalen Strafgerichtshof

Bei willkürlichen Luftangriffen des Militärs in Myanmar wurden in den Bundesstaaten Rakhine und Chin Zivilist*innen getötet, darunter auch Kinder. Das belegt Amnesty International mit neuem Beweismaterial.

Diese Angriffe und andere schwere Menschenrechtsverletzungen finden in Teilen Myanmars statt, die seit Monaten vom Internet abgeschnitten sind. Durch die Internetsperre weiß die Bevölkerung nur wenig über die Gefahren der COVID-19-Pandemie. Sie hat auch keinen Zugang zu Informationen über humanitäre Hilfe. Dem Bundesstaat Rakhine blieben zwar bislang größere COVID-19-Ausbrüche erspart, allerdings stiegen die Fallzahlen im Juni an.

„Während die Behörden die Menschen aufforderten, zu Hause zu bleiben, um die COVID-19-Pandemie einzudämmen, brannte das Militär in den Bundesstaaten Rakhine und Chin Häuser nieder und tötete Zivilist*innen bei willkürlichen Angriffen, die Kriegsverbrechen gleichkommen“, sagt Nicholas Bequelin, Direktor für die Region Asien-Pazifik bei Amnesty International.

Der internationale Druck gegen die Militäreinsätze in der Region steigt. Und trotzdem ist Straflosigkeit in den Reihen des myanmarischen Militärs immer noch in einem schockierenden Ausmaß weit verbreitet.

„Was neu ist, sind die Luftangriffe und Internetsperren; was gleich geblieben ist, ist die skrupellose Gleichgültigkeit des Militärs gegenüber dem Leben von Zivilist*innen“, sagt Nicholas Bequelin, und sagt weiter: "Die Gräueltaten haben nicht aufgehört. Im Gegenteil, die Grausamkeit des myanmarischen Militärs zeigt sich auf immer raffiniertere Weise."

Dieses Muster an Menschenrechtsverletzungen muss eindeutig vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden. Der Sicherheitsrat muss dringend handeln!

Nicholas Bequelin, Direktor für die Region Asien-Pazifik bei Amnesty International

 

Wendepunkt im Konflikt: Weitere Zehntausend Menschen auf der Flucht

Der Konflikt eskalierte, nachdem die bewaffnete ethnische Gruppe Arakan Army (AA) aus Rakhine am 4. Jänner 2019 mehrere Anschläge auf Polizeiposten im Norden des Bundesstaates verübt hatte. Diese Angriffe veranlassten die Regierung zu Vergeltungsschlägen, um die AA zu „zerschlagen“ – ein weiterer Wendepunkt im Konflikt: Zehntausende Menschen sind durch die Angriffe gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.

Laut Schätzungen des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen flohen Anfang Juli weitere 10.000 Menschen aufgrund schwerer Kampfhandlungen und Warnungen vor vorrückenden Militäreinheiten aus ihren Häusern.

Am 23. März 2020 stufte Myanmar die AA offiziell als rechtswidrige Organisation ein. Während Myanmar seine ersten COVID-19-Fälle zu verzeichnen hatte, nahmen die Kämpfe zwischen März und Mai an Intensität zu. Nach UN-Angaben wurden allein im Mai mehr als 30 Zivilist*innen im Zuge des Konflikts getötet oder verletzt.

Die Opfer stammen überwiegend aus ethnischen Minderheiten mit buddhistischem und christlichem Glauben in den Bundesstaaten Rakhine und Chin. Medienberichte dokumentierten aber auch Verstöße gegen zivile Angehörige der Rohingya-Minderheit.

 

Das humanitäre Völkerrecht stuft willkürliche Angriffe mit zivilen Todesopfern als Kriegsverbrechen ein.

Amnesty International fordert den UN-Sicherheitsrat daher dringend auf, den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) mit der Untersuchung der Situation in Myanmar zu betrauen.

„Das ganze Dorf hat das Flugzeug gesehen“

Die myanmarischen Luftstreitkräfte haben enorme Schäden und unsagbares menschliches Leid verursacht. Drei Personen aus einer Ansammlung von Chin-Dörfern namens Meik Sar Wa im Township Paletwa des Chin-Staats beschrieben Luftangriffe, die sie am 14. und 15. März 2020 miterlebt hatten.

„Das ganze Dorf hat das Flugzeug gesehen ... es war unheimlich laut“, sagte einer der Anwohner und fügte hinzu, dass der Angriff gegen 11 Uhr vormittags stattgefunden habe.

Als er Explosionsgeräusche hörte, lief er zum Haus seines Vaters, wo er seinen Bruder mit einer tödlichen Bauchwunde und die Leiche eines 16-jährigen Freunds seines Bruders fand. Sein Onkel befand sich in einem anderen Haus und wurde ebenfalls bei diesem Angriff getötet.

Zwei andere von Amnesty International befragte Personen derselben Dorfgruppe berichteten, dass ein Luftangriff neun Menschen in ihrer Gemeinde getötet habe, darunter auch einen Siebenjährigen. „Unsere Familie ist zerstört“, sagte der Vater des Jungen.

Ein Bauer der Minderheit der Rakhine aus dem Dorf Lel Hla im Township Paletwa im Chin-Staat sagte, dass die Kämpfe am 7. April 2020 nahe eines benachbarten Dorfes namens Hnan Chaung Wa ausgebrochen seien. Seiner Aussage zufolge haben die Luftangriffe sieben Menschen getötet und acht Personen verletzt, was Medienberichte über diese Vorfälle bestätigen.

Nachdem er dabei geholfen hatte, Leichen und Verletzte zu bergen, sah er, wie zwei Kampfjets sein eigenes Dorf angriffen und zwei Rauchsäulen und brennende Grundstücke zurückließen. Am nächsten Tag floh er in die Stadt Paletwa, aber auch dort kam es zu Luftangriffen.

Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen

Aussagen von Zeug*innen belegen, dass myanmarische Soldaten im Bundesstaat Rakhine willkürlich Zivilist*innen wegen angeblicher Verbindungen zur AA inhaftiert haben und in einigen Fällen auf Folter und andere Formen der Misshandlung zurückgegriffen haben.

Zwei ehemalige Bewohnerinnen des Township Mrauk U im Bundesstaat Rakhine teilten Amnesty International mit, dass einer ihrer Angehörigen festgenommen und gefoltert wurde, nachdem myanmarische Soldaten am 29. Februar 2020 das Feuer eröffnet hatten.

Eine der beiden Frauen, die Ehefrau des Inhaftierten, besuchte ihren Mann im Gefängnis und berichtete, dass ihr Mann nach eigener Aussage vier Nächte und fünf Tage gefesselt gewesen und mit Schlägen traktiert worden sei. Durch die Misshandlungen leide er nun unter Atembeschwerden.

„Er bekam weder Essen noch Wasser. Sie traten ihn, schlugen ihn mit Gewehren auf den Rücken und traten auch gegen seine Brust“, sagte sie. „Vor der Haft war er groß und stark. Als ich ihn jetzt wiedersah ... war er deutlich dünner.“

Die Soldaten hätten ihm ein Messer an die Kehle gehalten und auf diese Weise ein erzwungenes „Geständnis“ über seine angeblichen Verbindungen zur AA erpresst. Er wurde unter dem Antiterrorgesetz angeklagt, das in den vergangenen Monaten zunehmend gegen Journalist*innen angewendet wurde, die über den Konflikt berichten, sowie gegen Menschen mit mutmaßlichen Verbindungen zur AA.

Das Schlagen inhaftierter Personen scheint eine weitverbreitete Praxis zu sein: Im Mai gab das Militär zu, dass Soldaten Gefangene geschlagen und getreten hätten, nachdem ein Video des schrecklichen Vorfalls virale Verbreitung gefunden hatte.

Willkürliche Inhaftierungen wurden in mehreren Townships dokumentiert. Eine Dorfbewohnerin aus dem Township Kyauktaw im Bundesstaat Rakhine wurde Zeugin, wie myanmarische Soldaten zehn Bewohner*innen ihrer Gemeinde, darunter auch ihren Ehemann, am 16. März 2020 festnahmen. Amnesty International gegenüber berichtete sie, dass die Soldaten Inhaftierte, die Widerstand leisteten, getreten und mit Waffen geschlagen hätten. Die betreffenden Soldaten gehörten Berichten zufolge zum 55. Leichten Infanterieregiment – eine Einheit, dessen Verstöße im Bundesstaat Rakhine Amnesty International bereits zuvor dokumentiert hat.

„Ich habe immer noch nichts von meinem Mann gehört und bin am Boden zerstört“, sagte sie.

Plünderungen und Zerstörung von Besitz

Allem Anschein nach konfiszieren oder zerstören die Streitkräfte oftmals zivile Besitztümer und benutzen Klöster als vorübergehende Stützpunkte. So dokumentierte Amnesty International in einem 2019 erschienenen Bericht die Zweckentfremdung und Beschlagnahmung zivilen Eigentums durch Militärangehörige im Bundesstaat Rakhine und im Shan-Staat.

Laut Angaben der Anwohner*innen nahmen die Streitkräfte Reis, Feuerholz, Decken, Kleidungsstücke, Mobiltelefone und persönliche Unterlagen sowie goldene Armreifen und Halsketten an sich. Nutztiere wurden geschlachtet oder mitgenommen, und Militärangehörige zertrümmerten Türen und Fenster und zerstörten auch kleine buddhistische Altare in Privathäusern.

Zudem dokumentierte Amnesty International, wie in verschiedenen Townships der Bundesstaaten Rakhine und Chin Dörfer niedergebrannt bzw. zerstört wurden.

Satellitenaufnahmen mehrerer Dörfer zeigen, dass weite Teile in Brand gesteckt wurden, was eine konsistente Taktik des myanmarischen Militärs ist. Das Militär und die Arakan Army geben sich gegenseitig die Schuld an den Brandstiftungen.

In einem Dorf des Townships Minbya im Bundesstaat Rakhine steckten Angehörige des Militärs am 29. März etwa zehn Häuser und ein Schulgebäude in Brand. Dies geht aus den Angaben eines Dorfbewohners hervor, der im Zuge der Brandstiftung vertrieben wurde. Er gab zudem an, dass dabei zwei Personen getötet wurden.

Ein 41-jähriger Angehöriger der Rakhine versuchte am 24. Mai, in das Dorf Sein Nyin Wa im Township Paletwa im Chin-Staat zurückzukehren, aus dem er zwei Monate zuvor vertrieben worden war. Als er sich dem Dorf näherte, sah er jedoch nur noch Asche und Trümmer.

Amnesty International konnte aufgrund der Reisebeschränkungen im Zuge der COVID-19-Pandemie und wegen des eingeschränkten Zugangs zu Konfliktzonen und Augenzeug*innen die Einsätze und Menschenrechtsverstöße der Arakan Army nicht dokumentieren. Erhaltene Berichte legen jedoch den Schluss nahe, dass die Arakan Army weiterhin auf in der Vergangenheit dokumentierte Menschenrechtsverstöße zurückgreift. So bringt die bewaffnete Gruppe das Leben von Zivilist*innen in Gefahr, indem sie Angriffe durchführt, örtliche Gemeinschaften einschüchtert und Menschen willkürlich inhaftiert.

„Wir werden taub und blind“: Internetsperre während der Pandemie

In Juni 2019 blockierten die Behörden in neun Townships der Bundesstaaten Rakhine und Chin den Zugang zum Internet: Betroffen waren die Townships Buthidaung, Kyauktaw, Maungdaw, Minbya, Mrauk-U, Myebon, Ponnagyun und Rathedaung in Rakhine sowie Paletwa im Chin-Staat.

Ende August 2019 wurde diese Sperre in fünf Townships aufgehoben, im Februar 2020 jedoch erneut verhängt. Laut aktuellem Stand hat lediglich Maungdaw wieder Zugang zu mobilem Internet.

Die Regierung führt an, die Internetsperre sei notwendig, da die Arakan Army das mobile Internet dafür nutze, um Angriffe gegen Regierungsangehörige zu koordinieren, Antipersonenminen zu deponieren und Hass gegen die Behörden zu schüren. Allerdings hat die Internetsperre auch zur Folge, dass die Menschen kaum Zugang zu Informationen über COVID-19 haben.

„Nur wenige Personen in den Lagern wissen über COVID-19 Bescheid“, sagte ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. Er schätzte, dass sich nur etwa fünf Prozent der Lagerbewohner*innen dieser Bedrohung bewusst seien.

Ein Mann, der aus dem Township Minbya vertrieben worden war, gab an, dass sich die Menschen auf das Fernsehen, gedruckte Zeitungen und illegale Satellitenkanäle verlassen müssten, um Informationen über COVID-19 zu erhalten.

„Es macht mir Sorgen, denn im Krieg kann man sich im Busch oder in der Nähe verstecken, aber vor dem Virus kann man sich nicht verstecken. Es ist, als würden wir taub und blind, und es gibt niemanden, der über das berichtet, was in Minbya passiert.“

 

Über die Recherchen von Amnesty International

Amnesty International führte im Mai und Juni 2020 mehr als zwei Dutzend Fern-Interviews mit Angehörigen der ethnischen Gruppen der Rakhine und Chin durch, die von militärischen Operationen wie Luftangriffen und Granatbeschuss betroffen waren. Zudem analysierte die Menschenrechtsorganisation aktuelle Satellitenbilder niedergebrannter Dörfer und überprüfte die Echtheit von Videomaterial, das Verstöße des myanmarischen Militärs zeigt.

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