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© Mamoudou L. Kane/Amnesty International

Presse © Mamoudou L. Kane/Amnesty International

Konflikt in Niger: Immer mehr Kinder von bewaffneten Gruppen getötet oder als Soldaten rekrutiert

10. September 2021

Zusammenfassung

In den Konflikten an Nigers Grenzen zu Mali und Burkina Faso werden immer mehr Kinder getötet oder von bewaffneten Gruppen rekrutiert, so Amnesty International in einem neuen Bericht, der heute veröffentlicht wurde.

Der 57-seitige Bericht 'I Have Nothing Left Except Myself': The Worsening Impact on Children of Conflict in the Tillabéri Region of Niger dokumentiert die verheerenden Auswirkungen des Konflikts in Niger auf Kinder. Die an dem Konflikt beteiligten bewaffneten Gruppen Islamischer Staat in der Großsahara (ISGS) und die mit Al-Qaida verbundene Jama'at Nusrat al-Islam wal-Muslimin (JNIM) haben zahlreiche Kriegsverbrechen und andere Gewalttaten begangen, darunter die Ermordung von Zivilpersonen – vermehrt auch Kinder – und Angriffe auf Schulen.

Traumatisierte Generation inmitten von Tod und Zerstörung

Viele Kinder sind nach den tödlichen Angriffen auf ihre Dörfer traumatisiert. In einigen Gebieten ist es Frauen und Mädchen untersagt, das Haus zu verlassen, da sie sonst Gefahr laufen, entführt oder mit Kämpfern zwangsverheiratet zu werden. 

In Nigers Region Tillabéri wächst eine ganze Generation inmitten von Tod und Zerstörung auf

Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich

Dokumentiert werden darin Symptome von Trauma und Verzweiflung bei Kindern, darunter Albträume, Schlafstörungen, Angst, Unruhe und Appetitlosigkeit. Amnesty fordert, dass „die nigrische Regierung und ihre internationalen Partner dringend Maßnahmen zur Überwachung der Lage ergreifen und weitere Übergriffe verhindern, um die Grundrechte aller von diesem tödlichen Konflikt Betroffenen zu schützen – insbesondere die der Kinder.“

Völliges Versagen der Behörden

Die Organisation prangert in dem Bericht auch an, dass die nigrischen Behörden beim Schutz der Zivilbevölkerung versagt. Zeug*innen von Angriffen schilderten, wie die nigrischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (FDS) trotz eingehender Notrufe häufig erst lange nach dem Ende der Morde und Plünderungen eintrafen oder gar nicht reagierten, während sich das Töten und Plündern über mehrere Stunden hinzog. Aus einigen Grenzgebieten zogen sich die FDS überhaupt zurück, nachdem sie Ende 2019 Gebiete an den ISGS und die JNIM verloren hatten, sodass dort keine staatlichen Behörden mehr präsent sind.

© Mamoudou L. Kane/Amnesty International © Mamoudou L. Kane/Amnesty International

Eskalation seit Jahresbeginn: Immer mehr Kinder unter den Todesopfern

Amnesty International betrachtet die Situation in Niger angesichts der Intensität der Gewalt und des Organisationsgrades der beteiligten Gruppen als nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Besonders in Tillabéri ist die Situation seit Beginn dieses Jahres erheblich eskaliert. Bewaffnete Gruppen töteten im Jahr 2021 bereits mehr als 60 Kinder im Dreiländereck von Niger. Die ISGS, die vor allem an der Grenze zu Mali operiert, scheint für die meisten dieser groß angelegten Tötungen verantwortlich zu sein. Laut Bericht schossen die Kämpfer*innen in Häuser hinein und verletzten oder töteten Zivilpersonen, die sich zu verstecken versuchten. Bewaffnete Gruppen griffen außerdem wiederholt Schulen an und zerstörten Lebensmittelvorräte, zudem rekrutieren sie Kinder – besonders im Departement Torodi, nahe der Grenze zu Burkina Faso.

Rekrutierung von Kindersoldaten

Zeug*innenaussagen zufolge hat die JNIM jüngere Männer und Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren, möglicherweise auch jünger, ins Visier genommen. Mit Anreizen wie Essen, Geld und Kleidung werden Rekruten angelockt. Diese erhalten Berichten zufolge eine Waffenausbildung, die zwischen einer Woche und drei Monaten dauern kann. Es ist auch bekannt, dass die JNIM Kinder als Spione, Kundschafter und Späher einsetzt, neben anderen Funktionen, die nach internationalem Recht als Teilnahme an Feindseligkeiten gelten.

Angriffe auf Schulen: Bildung soll verhindert werden

Als Teil ihres Widerstands gegen die Bildung, die sie als „westlich“ betrachten, zündeten der ISGS und die JNIM wiederholt Schulen an und bedrohten Lehrer*innen, was zu vielen Schulschließungen führte. Im Juni 2021 waren mindestens 377 Schulen in der Region Tillabéri geschlossen, wodurch mehr als 31.000 Kinder keinen Zugang zu Bildung hatten. Auch wurden bei Angriffen vom ISGS Getreidelager niedergebrannt, Geschäfte geplündert und Vieh gestohlen, sodass die betroffenen Familien völlig mittellos zurückblieben. Zehntausende Menschen wurden so bereits gewaltsam vertrieben, und oft wurden ganze Dörfer wegen des Mangels an Nahrungsmitteln aufgegeben.

Hintergrund

Der Konflikt brach 2012 in Mali aus und hat sich seitdem auf die Nachbarländer Burkina Faso und Niger ausgeweitet. Bewaffnete Gruppen kämpfen um die Kontrolle in den Grenzgebieten und stoßen häufig mit dem nigrischen Militär und Streitkräften aus Ländern wie Tschad, Mali, Burkina Faso und Frankreich zusammen.

Im Jahr 2021 wurden etwa 1,9 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben; schätzungsweise 13,2 Millionen Menschen werden in den drei Ländern humanitäre Hilfe benötigen.

Für den Bericht befragte Amnesty International 119 Personen, darunter 22 Kinder, drei junge Erwachsene zwischen 18 und 20 Jahren sowie 36 Eltern und andere von dem Konflikt Betroffene; außerdem Mitarbeiter*innen von NGOs und humanitären Organisationen sowie UN- und Regierungsbeamt*innen.

Nahinfrarot-Bilder zeigen gesunde Vegetation in Rot und kürzlich verbrannte Gebiete in braunen/schwarzen Farbtönen. Tchoma Bangou, Januar 2021: Ein Feld 1,5 km nordöstlich des Dorfes ist offenbar vor kurzem abgebrannt. Zwei Getreidespeicher neben dem Feld sehen ebenfalls niedergebrannt aus. Die Lücken zwischen den verbrannten Flächen deuten darauf hin, dass die Getreidespeicher gezielt angegriffen wurden. (c) 2021, Planet Labs, Inc