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Ein Jahr nach dem 7. Oktober haben wir mit Menschen aus Israel gesprochen, die bei dem grausamen Angriff der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen auf Israel Angehörige und Freund*innen verloren haben – darunter Noy Katsman. Am 7. Oktober tötete die Hamas Noy Katsmans Bruder Hayim. Seitdem setzt sich Katsman für ein Ende des Krieges ein. Schon davor war Katsman aktiv bei „Breaking the Silence“ und „Standing Together“. Katsman lebt in Berlin und hat gerade ein Bachelor-Studium im Bereich Soziologie abgeschlossen.
Wir wussten, dass mein Bruder Hayim nah an der Grenze zu Gaza lebt. Aber niemand hätte sich vorstellen können, dass so etwas wie der 7. Oktober passiert. Für seine Familie ist sein Tod ein immenser Verlust. Und für die Gesellschaft auch, weil er so ein toller Mensch und Wissenschaftler war. Er recherchierte und schrieb über die rechts-religiöse zionistische Bewegung in Israel. Er setzte sich für den Zugang von Minderheiten zur Wissenschaft ein und gegen ethnische Säuberung im Raum Hebron. Außerdem war er DJ und Gärtner. Obwohl wir uns nicht so nahestanden, bekam ich mit, was er machte, und war stolz auf ihn.
Was mich nach seinem Tod am meisten verletzt hat, war der Verrat durch meine eigene Gesellschaft. Nachdem israelische Zeitungen über seinen Tod berichtet hatten, gab es viele, die sagten, er hätte das verdient, weil er links war, weil er Friedensaktivist war. Das war hart für mich. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch Israeli sein kann, wenn ich nicht für Rache und Zerstörung bin. Ich möchte glauben, dass das möglich ist. Und ich habe Freund*innen, die das hinkriegen. Aber es fällt mir immer schwerer, mich in Israel zugehörig zu fühlen.
Ich wuchs als Kind US-amerikanischer Migrant*innen in einem kleinen Ort in der Nähe von Tel Aviv auf. Mein Umfeld war sehr religiös und zionistisch, und ich ging in Schulen, die politisch rechts waren. Ich wuchs mit der Vorstellung auf, dass Palästinenser*innen böse sind, dass sie unser Land wollen, uns töten wollen, dass wir sie rausschmeißen müssen. Wir lernten auch gute Werte: alle Menschen zu lieben und ihnen zu helfen. Aber irgendwie war das auf jüdische Menschen beschränkt.
Als Kind von Einwander*innen und als queere Person habe ich mich in der israelischen Gesellschaft schon immer als Außenseiter*in gefühlt. Vielleicht war es für mich deswegen einfacher, mich von dem zionistischen Narrativ zu lösen, mit dem wir in Israel aufwachsen. Nach dem Militärdienst zog ich nach Jerusalem und lernte erstmals palästinensische Menschen kennen. Ich begann, Arabisch zu lernen und meine eigene Position zu reflektieren. Uns wird immer beigebracht, dass wir Palästinenser*innen nicht trauen können. Aber plötzlich wurde mir klar, dass es vielleicht die israelische Armee ist, die lügt. Zu dieser Zeit gab ich meine Aussage bei „Breaking the Silence“ ab und begann mich bei „Standing Together“ zu engagieren.
Schon vor dem 7. Oktober habe ich viel Hass für meinen Aktivismus abbekommen. Ich erhielt Drohbriefe, weil ich ein Schild auf meinem Balkon aufgestellt hatte, wo auf Arabisch und Hebräisch stand „Dieses Land gehört uns allen“. Nach dem 7. Oktober wurde ich von CNN kontaktiert, weil mein Bruder und ich die amerikanische Staatsbürgerschaft haben. Ich dachte, das ist jetzt endlich meine Gelegenheit, meiner Stimme Gehör zu verschaffen. Ich wusste von Anfang an, dass die Lage eskalieren würde. Ich musste also etwas tun, etwas sagen. Ich wusste nicht, ob es einen Unterschied machen könnte, aber wollte es versuchen.
Ich habe seitdem Dutzende Interviews gegeben. Ich versuche, die Botschaft zu verbreiten, dass wir in Frieden leben können, keine Rache brauchen, das Blutvergießen beenden können. Diese Dinge erscheinen mir offensichtlich.
Mein Bruder wurde getötet, aber warum sollte ich deswegen wollen, dass jemand aus Gaza getötet wird? Uns wird immer gesagt, dass eine weitere Attacke uns Sicherheit bringen wird, aber ich glaube nicht daran.
Noy Katsman, Friedensaktivist*in aus Israel
Die Reaktionen, die ich bekam, haben mich teilweise sehr berührt. Eine Frau aus Gaza schrieb mir: Ich kann nicht glauben, dass es Israelis gibt, die uns nicht alle töten wollen. In Israel kamen meine Interviews nicht wirklich an. Es ist schon traurig, dass die ganze Welt mir zuhören will, aber mein eigenes Land nicht.
Das Massaker am 7. Oktober endete so schnell, nach nur zwei Tagen, aber das Massaker in Gaza dauert schon ein Jahr an und scheint endlos. Seit einem Jahr werden fast nur Palästinenser*innen getötet. Und es scheint, als würde das Leben westlicher Menschen höher bewertet als das nicht-westlicher Menschen.
Eine zentrale Forderung ist für mich, dass Gewalt gegen Zivilist*innen nicht akzeptabel ist, egal von welcher Seite. Mein ganzes aktivistisches Leben habe ich mich mit aller Kraft dafür eingesetzt. Das ist eine sehr simple Forderung. Wenn Gewalt gegen Zivilist*innen verübt wird, ist die Chance auf ein friedliches Zusammenleben sehr viel geringer. Ich glaube, es ist wichtig, politische Forderungen wie diese nicht nur an Israelis, sondern auch an Palästinenser*innen zu stellen. Eine ehrliche Kooperation kommt nur zustande, wenn wir von beiden Seiten unsere Forderungen mitbringen und miteinander verhandeln.
Noy Katsman, Friedensaktivist*in aus Israel
Wenn man sich machtlos fühlt und verzweifelt, dann werden die Ansichten extremer. Das kann ich gut verstehen: So viele Menschen leiden und es fühlt sich an, als könne man nichts tun. Aber wir müssen die Sache trotzdem rational angehen. Es braucht Pragmatismus, um zusammenzuarbeiten.
Im Moment sieht die Lage vor Ort wirklich nicht gut aus. Dabei hätten wir als Israelis nach dem 7. Oktober sagen können: Wir haben genug gelitten, wir müssen etwas verändern. Ich hatte auch die Hoffnung, dass andere Staaten Israel zu einem Friedensabkommen zwingen würden. Aber leider ist das nicht passiert. Daran sind vor allem die USA und Netanyahu schuld.
Trotzdem ist es wichtig, dass wir unsere Arbeit für den Frieden fortsetzen. Damit, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, die Strukturen bereitstehen. Ich lebe jetzt in Deutschland und bin gerade in Berlin mit einer palästinensischen Freundin zusammengezogen. Ich glaube, es ist wichtig, was in der Diaspora passiert. Das beweist, dass Dinge anders laufen können, und gibt Menschen Hoffnung und Inspiration. In Israel fehlt es uns gerade sehr an politischer Vorstellungskraft. Damit Menschen sich etwas vorstellen können, müssen sie es sehen. Ich überlege, mit meiner palästinensischen Freundin ein Projekt zu starten – vielleicht einen Begegnungsort für Palästinenser*innen und Israelis in Berlin. Das wird sicher nicht leicht wegen der Polarisierung, doch es ist möglich. Jetzt müssen wir aber erstmal ankommen.
Bericht von Noy Katsman, Protokoll: Hannah El-Hitami