Amnesty-Recherche zu Afghanistan: Taliban foltern und töten Angehörige der Hazara, darunter ein Kind
19. September 2022Zusammenfassung
- Sechs Menschen wurden bei einem nächtlichen Überfall auf ein Privathaus in der Provinz Ghor getötet, darunter ein zwölfjähriges Mädchen
- Anhaltende Tötungen durch die Taliban deuten auf ein systematisches Vorgehen gegen ethnische Minderheiten und Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte hin
- Taliban müssen Racheakte sofort einstellen und dafür sorgen, dass Mitarbeiter*innen der ehemaligen Regierung und ihre Familien sicher in Afghanistan leben können, fordert Amnesty International
Bei einem gezielten Angriff am 26. Juni 2022 haben Taliban-Kämpfer in der Provinz Ghor sechs Angehörige der ethnischen Minderheit der Hazara getötet. Das bestätigte Amnesty International auf der Grundlage jüngster Recherchen.
Die Taliban haben bei einer nächtlichen Razzia auf der Suche nach einem ehemaligen Sicherheitsbeamten vier Männer festgenommen und außergerichtlich hingerichtet. Die Leiche von mindestens einem der Hingerichteten wies Folterspuren auf. Auch eine Frau und ein zwölfjähriges Mädchen wurden bei der Razzia getötet.
Familienmitglieder getötet
In der Nacht des 26. Juni 2022 überfielen Taliban-Kräfte das Haus von Mohamad Muradi, einem Hazara-Mann und Sicherheitsbeamten der früheren Regierung, der in den Jahren 2020 und 2021 auch eine lokale Miliz gegen die Taliban angeführt hatte.
Mohamad Muradi war vor kurzem in sein Haus in Chahar Asyab im Bezirk Lal wa Sarjangal in der Provinz Ghor zurückgekehrt, nachdem sein Versuch, in den Iran zu fliehen, gescheitert war und er sich anschließend in anderen Städten des Landes versteckt hatte. Wie viele andere Oppositionelle hatte Muradi das Angebot eines personalisierten „Amnestie-Briefes" – der häufig an ehemalige Sicherheits- und Regierungsbeamte ausgestellt wird und in dem die Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat im Austausch für das Versprechen, die Waffen niederzulegen, angeboten wird – aus Angst vor Vergeltungsangriffen der Taliban nicht angenommen.
Zeug*innen berichteten Amnesty International, dass Taliban-Kräfte in der Nacht des Angriffs Gewehre und Panzerfäuste auf Muradis Haus abfeuerten und dabei seine 22-jährige Tochter Taj Gul Muradi töteten. Sie war Medizinstudentin und in der Gemeinde für die medizinische Versorgung zuständig. Bei dem Angriff wurden Mohamad Muradi und zwei weitere Kinder von Muradi, ein Sohn und seine zwölfjährige Tochter, verletzt. Das Mädchen erlitt schwere Bauchverletzungen und starb am nächsten Tag.
Muradi hatte Schussverletzungen am linken Bein, und er ergab sich den Taliban-Kräften durch das Eingreifen der örtlichen Ältesten. Die Taliban zerrten ihn dann jedoch aus dem Haus und erschossen ihn. Die Analyse von Fotos seiner Leiche zeigt ein Loch an der Vorderseite seines Hemdes, die auf eine Brustwunde hindeuten, sowie eine Austrittswunde an der Stirn.
Amnesty International hat Fotos und Videos geprüft, die Schäden an Muradis Haus zeigen, die mit Zeug*innenaussagen übereinstimmen. Die Bilder wurden auch geografisch verortet, indem sichtbare Merkmale – einschließlich Vegetation, nahe gelegene Gehwege und der Grundriss der Gebäude – sowie Satellitenbilder analysiert wurden.
Gefoltert und außergerichtlich hingerichtet
Drei weitere Männer, die sich in Muradis Haus aufgehalten hatten, wurden festgenommen und dann außergerichtlich hingerichtet. Zwei von ihnen waren Mitglieder derselben lokalen Miliz gewesen, der auch Mohamad Muradi angehörte, allerdings hatten sie sich seit geraumer Zeit nicht mehr an Aktionen der Miliz beteiligt.
Ghulam Haider Mohammadi, Muradis Neffe, hatte Verwandte besucht. Fotos von Ghulam Haider Mohammadis Leiche zeigen, dass er mit mindestens einem Kopfschuss hingerichtet wurde, während er kniete und seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Einheimische fanden seine Leiche etwa 50 Meter von Muradis Haus entfernt zwischen einigen Steinen in einem Gebiet mit zahlreichen Bäumen.
Zeug*innen berichteten Amnesty International, dass die beiden anderen Opfer – Asif Rezayee und Arif Sangaree – in ein Fahrzeug gesetzt und weggefahren wurden, um an einem anderen Ort getötet zu werden. Die Leichen der beiden Männer wurden später in einem unbewohnten Teil von Takeghal entdeckt, mehr als 30 Autominuten von dem Ort entfernt, an dem sie ursprünglich festgenommen worden waren.
Asif Rezayee hatte in Kabul gelebt, war aber einige Tage zuvor in sein Heimatdorf zurückgekehrt, um Familienangehörige zu besuchen. Rezayee wurde durch Schüsse hingerichtet, während seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Fotos und ein Video von seiner Leiche zeigen vier verschiedene Schusswunden am Kopf, an der Brust, dem rechten Oberschenkel und der linken Hand. Aufgrund der Art der Wunden, der offensichtlichen Flugbahn der Kugeln und der Schießpulverflecken wurden die Wunden am Bein und an der Hand vor der Hinrichtung aus nächster Nähe zugefügt. Eine solche vorsätzliche Zufügung von Schmerzen an einem gefesselten Häftling stellt Folter dar, ein Verbrechen nach dem Völkerrecht.
Fotos deuten darauf hin, dass sich Arif Sangaree ebenfalls in Gewahrsam befand und gefesselt hingerichtet wurde, mit mindestens einem Schuss aus nächster Nähe in den Kopf. Eines der von den Taliban auf Facebook geposteten Fotos, auf dem sie sich für die erfolgreiche Operation rühmen, zeigt Sangaree mit einer großen Wunde im Gesicht, die von frischem, hellrotem arteriellem Blut umgeben ist, was darauf hindeutet, dass die Taliban das Foto unmittelbar nach seinem Tod aufgenommen haben. Im Gegensatz dazu zeigen Fotos von Personen, die die Leiche entdeckt haben, Sangaree mit der gleichen Wunde, aber das Blut ist dunkel und getrocknet, was bedeutet, dass diese Fotos später gemacht wurden.
Racheakte der Taliban
Die Taliban-Nachrichtenquellen, die das Bild von Arif Sangarees Leiche veröffentlichten, beschrieben die nächtliche Razzia als eine „gezielte Operation", die in einem Kampf zwischen „Rebellen" bzw. „Mudschaheddin" und den Taliban gipfelte. In dem Bericht hieß es, sieben Rebellen seien getötet, festgenommen und verwundet worden, ein Taliban-Mitglied sei getötet und zwei weitere verwundet worden.
Zur Rechtfertigung der Tötungen hieß es in der Erklärung weiter, der Einsatz sei erfolgt, nachdem Kämpfer, die mit Mawlavi Mahadi, dem Hazara-Führer einer Gruppe von Taliban-Überläufern, in Verbindung standen, die Taliban im Bezirk Balkhab in der Provinz Sar-e-Pul angegriffen hätten und dann geflohen seien und sich im Dorf Chahar Asyab einen Stützpunkt aufgebaut hätten. Diese Aussage der Taliban ist falsch. Während diese Kämpfe vom UN-Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in Afghanistan in seinem Bericht vom 6. September 2022 dokumentiert wurden, der auch Fälle von Taliban-Hinrichtungen von Kämpfern, die nicht mehr kampffähig waren („hors de combat") enthält, waren Muradi und seine Familienmitglieder weder Mitglieder von Mahadis Gruppe noch an dieser Reihe von Angriffen beteiligt. Nach Ansicht von Amnesty International ist die Rechtfertigung der Taliban vielmehr ein Vorwand, um ethnische Minderheiten und Sicherheitskräfte, die mit der früheren Regierung in Verbindung stehen, ins Visier zu nehmen.
Die Taliban müssen diese Racheakte sofort einstellen und dafür sorgen, dass Mitarbeiter*innen der ehemaligen Regierung und ihre Familien sicher in Afghanistan leben können.
Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
Grausames Muster gezielter Verfolgung der Hazara
Der Angriff ist Teil eines umfassenderen Musters rechtswidriger gezielter Tötungen von Menschen, die von den Taliban als Oppositionelle betrachtet werden – in diesem Fall sowohl Angehörige der Hazara-Gemeinschaft als auch Personen, die mit der früheren afghanischen Regierung in Verbindung standen.
„Diese Tötungen sind ein weiterer schockierender Beweis dafür, dass die Taliban die Hazara weiterhin verfolgen, foltern und außergerichtlich hinrichten", sagt Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International und sagt weiter:
„Die Taliban müssen dieses grausame Muster der gezielten Tötungen sofort beenden und als De-facto-Regierung den Schutz aller Afghan*innen sicherstellen. Die Taliban sind verpflichtet, diese Tötungen zu untersuchen und sicherzustellen, dass die Verantwortlichen in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen und -standards strafrechtlich verfolgt werden. Wenn die De-facto-Behörden nicht für Gerechtigkeit sorgen können, sollte der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs unverzüglich umfassende Ermittlungen in allen Fällen von außergerichtlichen Hinrichtungen einleiten. Darüber hinaus fordert Amnesty International gemeinsam mit dem UN-Sonderberichterstatter für die Lage in Afghanistan einen unabhängigen Mechanismus zur Rechenschaftslegung in und für Afghanistan."
Amnesty International hat ähnliche außergerichtliche Hinrichtungen von Hazara in der Provinz Ghazni im Juli 2021 und in der Provinz Daykundi im August 2021 dokumentiert. Obwohl die Taliban öffentlich versprachen, keine ehemaligen Regierungsbeamt*innen ins Visier zu nehmen, haben sie noch immer keine Ermittlungen eingeleitet und niemanden für die Tötungen zur Rechenschaft gezogen.
Amnesty-Untersuchung in Afghanistan
Amnesty International hat acht Fernbefragungen durchgeführt, unter anderem mit Zeug*innen des Angriffs vom Juni 2022. Zudem wurden 38 Fotos und drei Videos ausgewertet, die nach dem Angriff aufgenommen worden waren. Amnesty hat außerdem einen Gerichtsmediziner hinzugezogen, um die Fotos der Leichen zu analysieren. Die Organisation überprüfte Satellitenbilder des Gebiets, um den Ort einer der Tötungen zu bestätigen. Mehrere der analysierten Fotos wurden von Taliban-Medien im Internet veröffentlicht, darunter auch vom Medienbüro des Gouverneurs der Provinz Ghor, das die Beiträge jedoch kurz nach der Veröffentlichung wieder löschte.
Hintergrund
Die Taliban haben nach dem Zusammenbruch der Regierung Mitte August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen. Amnesty International hat zum Schutz von Tausenden von Afghan*innen aufgerufen, die von Vergeltungsschlägen der Taliban bedroht sind. Es gab zahlreiche Fälle von Razzien und außergerichtlichen Hinrichtungen, die sich gegen diejenigen richteten, die von den Taliban als Oppositionelle angesehen werden – insbesondere Angehörige der Hazara und schiitischer Gemeinschaften oder Kämpfer*innen der Nationalen Widerstandsfront (NRF).