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Amnesty verifiziert Angriffe auf Schulen in der Ukraine: Ein Kind und zwei Erwachsene durch Streumunition getötet

1. März 2022

Zusammenfassung

  • Amnesty International wertete digitales Material und weitere Quellen aus und bestätigte Einsatz von Streumunition in Wohngebieten und nahe eines Kindergartens und einer Schule in der Stadt Ochtyrka, in der sich Zivilist*innen aufhielten
  • Bei dem Angriff wurden drei Personen getötet, darunter ein Kind
  • Bisher bereits vier Angriffe auf schulische Einrichtungen von Amnesty International verifiziert
  • Verübung wahlloser Angriffe, bei denen Zivilpersonen getötet oder verletzt werden, stellen Kriegsverbrechen dar und müssen als solche untersucht werden, fordert Amnesty International

Am Morgen des 25. Februar wurde eine Vorschule im Nordosten der Ukraine, in der Zivilpersonen Schutz gesucht hatten, von weithin geächteter Streumunition getroffen. Dabei kamen drei Personen ums Leben, darunter ein Kind; ein weiteres Kind wurde verletzt. Der Angriff wurde allem Anschein nach von russischen Streitkräften verübt, die in der Nähe operierten und die schon mehrfach Streumunition in bewohnten Gebieten benutzt haben.

Einsatz von Streumunition in bewohnten Gebieten

Amnesty International bestätigte, dass eine Uragan-Rakete im Kaliber 220 mm über dem Sonetschko-Kinderheim und der gleichnamigen Vorschule in der Stadt Ochtyrka in der Oblast Sumy, wo Einheimische Schutz vor den Kampfhandlungen suchten, Streumunition abgeworfen hat. Der Angriff könnte ein Kriegsverbrechen darstellen.

„Es gibt keine denkbare Rechtfertigung dafür, in bewohnten Gebieten Streumunition einzusetzen, geschweige denn in der Nähe von schulischen Einrichtungen“, sagt Agnès Callamard, die internationale Generalsekretärin von Amnesty International. „Dieser Angriff zeigt in aller Deutlichkeit, dass Russland diese grundsätzlich unterschiedslos wirkende und international geächtete Waffe einsetzt und damit eine eklatante Missachtung des Lebens von Zivilpersonen demonstriert.“

Der Angriff verstößt gegen das Verbot wahlloser Angriffe und beschädigte eine Bildungseinrichtung, also ein Gebäude, das einen gesetzlichen Anspruch auf besonderen Schutz hat. Gemäß dem Übereinkommen über Streumunition von 2008 – einem von über 100 Staaten unterstützten Abkommen, dem die Ukraine und Russland jedoch nicht beigetreten sind – sind Verwendung, Entwicklung, Produktion, Erwerb, Lagerung und Weitergabe von Streumunition unter allen Umständen verboten. Das Völkergewohnheitsrecht verbietet den Einsatz so genannter unterschiedslos wirkender Waffen wie Streubomben. Die Verübung wahlloser Angriffe, bei denen Zivilpersonen getötet oder verletzt werden, stellt ein Kriegsverbrechen dar.

Es gibt keine denkbare Rechtfertigung dafür, in bewohnten Gebieten Streumunition einzusetzen, geschweige denn in der Nähe von schulischen Einrichtungen.

Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International

Untersuchung des Angriffs

Am Angriffsort von Drohnen aufgezeichnetes Filmmaterial zeigt, dass Streubomben an mindestens sieben Stellen in oder nahe dem Gebäude eingeschlagen sind, vier auf dem Dach und drei auf dem Gehweg direkt davor. Die Bilder zeigen auch zwei verletzte oder getötete Zivilpersonen sowie Blutlachen. Weitere 65 Fotos und Videoaufnahmen, die Amnesty International von einer Quelle vor Ort erhalten hat, zeigen weitere Einzelheiten vom Ort des Geschehens, die Betroffenen und ihre Angehörigen sowie die Schäden am Gebäude.

„Als ich [mit] meiner Frau dort entlangging, gab es auf einmal mehrere Explosionen“, berichtete ein älterer Mann einer Kontaktperson, die mit Amnesty International zusammenarbeitet. „Wissen Sie, alle waren voller Blut, alles. Schauen Sie …[Schimpfwort], es macht mich einfach fertig, dass es ein Kindergarten ist. Worauf schießen die denn? Auf militärische Objekte? Wo sind die?“

Der Gefechtskopf einer 220-Millimeter-Uragan-Rakete entweder vom Typ 9M27K oder 9M27K1 trägt dreißig Splitter-Bomblets vom Typ 9N210 oder 9N235, welche fast identisch sind und sich lediglich hinsichtlich der Zeitverzögerung bis zur Freisetzung ihrer Sprengladung unterscheiden. Die sieben Einschläge auf und neben dem Kindergartengebäude zeigen Schäden, die mit dem erwartbaren Schaden durch Streumunition vom Typ 9N210 oder 9N235 übereinstimmen, eingeschlossen charakteristische Absplitterungen auf dem Boden.

Zuerst von der investigativen Open-Source-Rechercheorganisation Bellingcat gemeldet, wurden Überreste des Gefechtskopfs und des Laderaums der 9M27K-Rakete 200 Meter weiter östlich aufgefunden. Open-Source-Berichte weisen darauf hin, dass sich russische Streitkräfte zur Zeit des Angriffs westlich von Ochtyrka aufhielten, wo sich der Flugbahn zufolge der Raketenabschussort befand. Ein Logistiklagerplatz 300 Meter nördlich des Kinderheims könnte das Ziel der Attacke gewesen sein. Mehrfachraketenwerfersysteme (MLRS) wie die bei diesem Angriff benutzten Uragan mit 220-Millimeterraketen sind ungesteuert und notorisch ungenau und sollten niemals in von Zivilpersonen bewohnten Gebieten eingesetzt werden. Dies auch deshalb, weil sie Sprengladungen über eine weite Fläche verstreuen und durch eine extrem hohe Blindgängerquote von bis zu 20 Prozent auch später noch für Zivilpersonen eine Bedrohung darstellen. Streubomben sind von Natur aus unterschiedslos wirkende Waffen, die durch ein von über 100 Staaten unterstütztes Abkommen international geächtet sind. Die Verwendung dieser Waffen verstößt gegen das Verbot wahlloser Angriffe. 

Vermehrt Angriffe auf schulische Einrichtungen

Dies ist der vierte Angriff in diesem Konflikt, der eine schulische Einrichtung getroffen hat und von Amnesty International verifiziert worden ist.

Am 17. Februar attackierten während verstärkter Beschüsse entlang der Kontrolllinie von Russland unterstützte Streitkräfte einen Kindergarten in der Stadt Stanyzja Luhanska, wobei drei Zivilpersonen verletzt wurden. Am Abend des 25. Februar beschädigte eine Rakete die Schule No. 48 in Mariupol, wodurch Fenster zerbarsten und die Wände von Metallsplittern durchlöchert wurden. Am 26. Februar schlug eine Explosivwaffe, höchstwahrscheinlich eine Artilleriegranate, in das Obergeschoss eines Kindergartens in Tschernihiw ein und löste ein Feuer aus, das vermutlich von VIIRS-Umweltsatellitensensoren entdeckt wurde.

Falschfarben-Infrarotaufnahmen zeigen das Feuer, welches auf am 26. Februar 2022 um 8:49 Uhr UTC aufgezeichnetem Bildmaterial zu erkennen ist. Umweltsensoren an Bord von NASA/NOAA-Satelliten entdeckten auch am 26. Februar 2022 zweimal Brennpunkte in Tschernihiw. Einer davon liegt in der Nähe des geolokalisierten Kindergartens.

Angriffe müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden

Laut dem humanitären Völkerrecht haben schulische Einrichtungen das Recht auf erhöhten Schutz, solange sie nicht für militärische Zwecke benutzt werden. (Keine der bei den von Amnesty International dokumentierten Vorfällen beschädigten Einrichtungen scheint für militärische Zwecke genutzt worden zu sein.) Konfliktparteien müssen besondere Sorgfalt walten lassen, um sie weder zu zerstören noch zu beschädigen, eine Bedingung, welche die russischen Streitkräfte nicht einzuhalten scheinen, wenn man die steigende Anzahl von Angriffen betrachtet.

2019 billigte die Ukraine die Safe Schools Declaration, welche Verpflichtungen enthält, die den Schutz von Schulen während bewaffneter Konflikte verstärken und deren Verwendung für militärische Zwecke einschränken. Alle am gegenwärtigen Konflikt Beteiligten sollten die Safe Schools Declaration und deren Richtlinien respektieren.

Es dreht einem den Magen um, wenn man einen wahllosen Angriff auf ein Kinderheim und einen Kindergarten sieht, wo Zivilpersonen eine sichere Zuflucht gesucht haben. Das muss schlicht und einfach als Kriegsverbrechen untersucht werden.

Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International

„Angesichts des weiteren Fortschreitens dieser menschlichen Tragödie in der Ukraine sollte jeder, der Kriegsverbrechen verübt, persönlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) oder in einem anderen internationalen Strafverfahren auf nationaler oder internationaler Ebene zur Verantwortung gezogen werden. Die UN-Mitgliedsstaaten und der IStGH müssen unbedingt und mit absoluter Dringlichkeit überlegen, wie sie die zeitnahe und effektive Erhebung und Sicherung von Beweismaterial sämtlicher nach dem Völkerrecht in der Ukraine verübten Straftaten gewährleisten können,“ sagt Agnès Callamard.

Obwohl Russland und die Ukraine keine Vertragsstaaten des IStGH sind, akzeptierte die Ukraine 2015 die Zuständigkeit des Gerichtshofs in Bezug auf nach dem 20. Februar 2014 auf ihrem Hoheitsgebiet verübte mutmaßliche Kriegsverbrechen.


Titelbild: Das Foto zeigt eine bei Kämpfen zerstörte Schule unweit des Zentrums der ukrainischen Stadt Charkiw, die etwa 50 km von der ukrainisch-russischen Grenze entfernt liegt, am 28. Februar 2022. 

Russischer Einmarsch in die Ukraine

Amnesty International beobachtet die Lage der Zivilbevölkerung in der Ukraine genau und wird weiterhin Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das Völkerrecht aufdecken und dokumentieren. Hier findest du aktuelle Updates und Informationen unserer Recherchen zum Krieg in der Ukraine.

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