Syrien: Entsetzliche Bedingungen im Lager Rukban - USA müssen helfen
23. September 2024Die Vereinigten Staaten (USA) sollten dringend humanitäre Hilfe für mindestens 8.000 vertriebene Syrer*innen bereitstellen, die in dem belagerten, isolierten Lager Rukban an der syrischen Grenze zu Jordanien und Irak festsitzen, das de facto unter US-Kontrolle steht und keinen Zugang zu ausreichender Nahrung, sauberem Wasser oder medizinischer Versorgung hat, so Amnesty International.
Die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage in dem Lager hat sich in den letzten Monaten drastisch verschlechtert, nachdem die syrische Regierung die Belagerung, die sie seit 2015 über das Gebiet um das Lager verhängt hat, verschärft und Kontrollpunkte eingerichtet hat, die informelle Schmuggelrouten blockieren, auf die die Bewohner des Lagers für lebenswichtige Güter angewiesen sind. Der letzte humanitäre UN-Konvoi, der von der syrischen Regierung in das Lager gelassen wurde, fand vor fast fünf Jahren im September 2019 statt.
Das US-Militär betreibt einen Stützpunkt in der Nähe des Lagers Rukban und hat de facto die tatsächliche Kontrolle über das 55 km große Gebiet, in dem sich der Stützpunkt und das Lager befinden. Aus diesem Grund und angesichts der Menschenrechtsverletzungen anderer Regierungen ist die US-Regierung nach den internationalen Menschenrechtsnormen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Bewohner des Lagers Zugang zu lebenswichtigen Gütern haben.
„Es ist unfassbar, dass Tausende Menschen, darunter auch Kinder, in einer trockenen Einöde gestrandet sind und ohne Zugang zu lebensnotwendigen Gütern ums Überleben kämpfen. Die Bewohner*innen von Rukban sind Opfer einer brutalen Belagerung durch die syrische Regierung. Ihnen wurde von den jordanischen Behörden eine sichere Zuflucht verwehrt, oder sie waren von rechtswidrigen Abschiebungen bedroht, was die USA offensichtlich gleichgültig ließ“, sagte Aya Majzoub, stellvertretende Direktorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.
Bevor Jordanien 2016 die Grenze zu dem Gebiet abriegelte, lebten schätzungsweise 80.000 Menschen in Rukban. Diese Zahl ist heute auf 8.000 geschrumpft, da die meisten von ihnen das Gebiet aufgrund der schlechten Bedingungen verlassen haben. Trotz der ernsten Risiken, denen sie in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten ausgesetzt sind, darunter die Einstufung als „Terroristen“ und willkürliche Inhaftierung, Folter, gewaltsames Verschwindenlassen und andere Menschenrechtsverletzungen, weil sie sich gegen die syrische Regierung ausgesprochen haben, hatten Zehntausende keine andere Wahl, als dieses Risiko einzugehen. Heute schiebt Jordanien weiterhin unrechtmäßig Syrer*innen nach Rukban ab, obwohl die Bedingungen in dem Lager unerträglich sind. Die USA unternehmen kaum sichtbare Anstrengungen, um die verzweifelten Bedingungen zu verbessern, obwohl sie dazu in der Lage wären.
„Die syrische Regierung muss die Belagerung des Gebiets unverzüglich aufheben und humanitäre Hilfslieferungen an die Bewohner*innen des Lagers zulassen. Da die USA de facto die Kontrolle über das Gebiet ausüben, in dem sich das Lager befindet, sollten sie ihren Menschenrechtsverpflichtungen nachkommen und dafür sorgen, dass die Bewohner*innen des Lagers Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und medizinischer Grundversorgung haben. In der Zwischenzeit muss die internationale Gemeinschaft auf nachhaltige Lösungen für die Menschen im Lager hinarbeiten, wie etwa die Wiedereröffnung der Grenze zu Jordanien oder die sichere Weiterreise in andere Gebiete in Syrien, in denen die Menschen nicht mit Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sind“, so Aya Majzoub.
Tragische Situation: „Unsere Kinder sterben"
Amnesty International führte Interviews mit insgesamt neun Bewohner*innen, darunter vier Mitglieder des politischen Rates des Lagers, einer von der Gemeinschaft getragenen Initiative. Alle gaben an, dass sie um Nahrung und sauberes Wasser kämpfen müssen, da diese äußerst knapp sind. Die wenigen Lebensmittel und das wenige Wasser, das im Lager verfügbar ist, werden zu exorbitanten Preisen verkauft, die für die meisten unerschwinglich sind. Viele Jahre lang gelang es den Bewohner*innen, einige Vorräte über Schmuggelrouten in das Lager zu bringen, aber die syrischen Behörden haben nun selbst diese Routen blockiert, ohne eine Alternative für den Zugang zu lebenswichtiger Hilfe zu bieten.
Unsere Kinder sterben. Gestern ist ein Baby an Unterernährung gestorben. Es war erst 21 Tage alt. Vor einem Monat starben zwei weitere Neugeborene.
Mohammad Derbas Al-Khalidi, ein Mitglied des politischen Rates
„Ich bin finanziell, moralisch und in jeder anderen Hinsicht sehr erschöpft. Ich kann tagsüber nicht einmal einen Laib Brot für meine Kinder auftreiben“, sagte Ruqaya, eine Lagerbewohnerin.
Die Menschen im Lager leben in sehr einfachen Lehmhäusern, die sie weder vor Insekten noch vor dem extremen Wüstenwetter schützen können. „Im Winter ist das Wetter trocken und sehr kalt. Wir haben Nylonsäcke und eine Zeitung, um uns in unserem Haus warm zu halten. Wir können keinen Diesel kaufen“, sagt Nidal, ein Mitglied des politischen Rates.
Gesundheitsversorgung in Trümmern
Das Lager verfügt über keine angemessenen medizinischen Einrichtungen und hat keine Ärzt*innen. Stattdessen sind die Bewohner*innen auf ein medizinisches Zentrum angewiesen, in dem einige Krankenschwestern arbeiten, deren Gehälter von den USA bezahlt werden. Die Pflegerinnen sind nicht qualifiziert, um Operationen durchzuführen.
„Es gibt Menschen, die zur Behandlung in die von der Regierung kontrollierten Gebiete gegangen und nicht zurückgekehrt sind. Die letzte Person, die das Lager verlassen hat, ist Fahd Muhammad Al-Harawi, 30 Jahre alt, verheiratet und Vater von drei Kindern... Vor einem Monat wurde er in Homs verhaftet und verschwand“, sagte Nidal.
In den letzten Monaten mussten zwei schwangere Frauen per Kaiserschnitt entbunden werden und ihre Babys starben, berichtete der Leiter des Medienbüros des Lagers gegenüber Amnesty international. Er fügte hinzu, dass im Mai mindestens 500 Kinder an Gelbsucht litten.
Amnesty International sprach mit einem ehemaligen Krankenpfleger des Lagers, der berichtete: „Es gab auch Fälle von Windpocken und Masern mit hohem Fieber, vor allem bei Kindern, und Medikamente gegen Fieber sind im Lager sehr selten zu finden. Wir haben kein Paracetamol [Schmerzmittel und Fiebersenker], das wir dringend brauchen. Auch an Babynahrung mangelt es im Lager. Die Säuglinge werden mit [Ziegen-]Milch gefüttert, die für sie nicht geeignet ist.“
Sicherheit im Tausch gegen Nahrung
Die meisten Bewohner*innen des Lagers flohen vor etwa zehn Jahren in das Gebiet, um der Gewalt der syrischen und russischen Streitkräfte und der mit ihnen verbundenen Milizen sowie des Islamischen Staates zu entkommen. Viele gehörten der syrischen Oppositionsbewegung an oder waren von den syrischen Sicherheitskräften übergelaufen.
Amnesty International hat dokumentiert, wie die syrischen Behörden zwischen 2017 und 2021 gezielt gegen Rückkehrende aus Rukban vorgegangen sind und viele von ihnen willkürlich inhaftiert, zwangsverschleppt, gefoltert und anderweitig misshandelt haben. Mohammad Derbas al-Khalidi, ein Mitglied des politischen Rates in Rukban, berichtete, dass Personen, die in die von der Regierung kontrollierten Gebiete gingen, weiterhin festgenommen, von den syrischen Regierungstruppen zwangsrekrutiert oder an der Rückkehr in ihre Dörfer gehindert werden.
Ein anderes Mitglied des politischen Rates sagte, die Bewohner des Lagers zögerten, Rukban zu verlassen, weil es aufgrund der Kontrolle des US-Militärs über das Gebiet vor den syrischen Regierungstruppen und den mit ihnen verbundenen Milizen sicher sei. Gegenüber Amnesty International meinte er: „Jetzt zahlen sie den Preis dafür. Die Sicherheit, die es gibt, gibt es nur im Tausch gegen Lebensmittel.“
Jordanien schiebt unrechtmäßig Menschen nach Rukban ab, ohne Rücksicht auf Verluste
Nach Angaben von Mohammad al-Fadil, einem Mitglied des politischen Rates, schiebt Jordanien weiterhin jedes Jahr schätzungsweise 100 bis 150 Syrer*innen in das Lager Rukban ab. Er schätzt, dass mehr als 1.400 Syrer*innen in jordanischen Gefängnissen unter Abschiebungsbefehl stehen und Gefahr laufen, in das Lager Rukban gebracht zu werden.
Amnesty international sprach mit zwei Syrern, die im April 2024 nach Rukban deportiert worden waren. „Sie [die jordanischen Behörden] haben mir die Augen verbunden, meine Hände und Füße gefesselt und mich ins Lager Al-Rukban gebracht. Was haben wir getan, um das zu verdienen? Sie schlugen mir auf die Augen und den Kopf. Sie wollten uns nicht in Jordanien haben, gut, aber es gibt etwas, das man Mitgefühl und Barmherzigkeit nennt. Ich bin ein Mensch wie ihr“, sagte einer der Männer, der beschrieb, wie die jordanischen Behörden ihn nach Rukban deportierten, nachdem er mit jordanischen Männern gestritten hatte, die seine Kinder schlugen. Er berichtete, dass er zusammen mit neun anderen syrischen Männern im Jahr 2024 nach Rukban abgeschoben wurde.
„Ich habe fünf Kinder in Jordanien. Ich möchte nur wie jeder andere Mensch leben. Wohin soll ich gehen? Wenn ich nach Syrien gehe, ist mein Leben in Gefahr. Im Lager Rukban werden wir vor Hunger sterben. Es ist uns verboten, nach Jordanien zurückzukehren. Die Menschen denken darüber nach, Selbstmord zu begehen.“
Amnesty International hat bereits dokumentiert, dass die jordanischen Behörden am 10. August 2020 mindestens 16 syrische Flüchtlinge, darunter Kinder zwischen vier und 14 Jahren, nach Rukban abgeschoben haben.
Die zwangsweise Rückführung von Flüchtlingen an einen Ort, an dem ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen oder Misshandlungen drohen, verstößt gegen den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung. Die jordanische Regierung muss ihren internationalen Verpflichtungen zum Schutz von Flüchtlingen nachkommen und davon absehen, Syrer*innen in ihr Land zurückzudrängen.
Ich bin finanziell, moralisch und in jeder anderen Hinsicht sehr erschöpft. Ich kann tagsüber nicht einmal einen Laib Brot für meine Kinder auftreiben.
Ruqaya, eine Lagerbewohnerin
Die menschenrechtlichen Verpflichtungen der USA
Seit 2016 betreibt das US-Militär den Militärstützpunkt Tanf, der etwa 16 km von Rukban entfernt ist, und hat so die Kontrolle über das Gelände, auf dem sich das Lager und der Militärstützpunkt befinden. In einem Artikel aus dem Jahr 2019 erklärte Robert Ford, ehemaliger US-Botschafter in Syrien, dass die USA die Kontrolle über dieses Gebiet aufrechterhalten und andere Streitkräfte zurückgedrängt hätten, die versuchten, in das Gebiet einzudringen, so auch im Mai 2017, als US-Flugzeuge einen Konvoi syrischer und iranischer Streitkräfte angriffen, der sich Tanf genähert hatte.
Trotzdem scheinen sich die USA ihrer Verantwortung gegenüber den Bewohner*innen des Lagers Rukban zu entziehen, und ihre Interventionen waren minimal. Auf der US-Militärbasis sind rund 500 Männer aus dem Lager Rukban beschäftigt. Sie hat den Menschen im Lager sporadisch Hilfe geleistet, u. a. in Form eines Brotbackofens, mit Mehl und Treibstoff sowie in seltenen Ausnahmefällen medizinischer Versorgung, wie die Bewohner*innen des Lagers berichten, aber keine regelmäßige Unterstützung zur Deckung des kritischen Bedarfs sichergestellt.
Die USA sind in der Lage, viel mehr zu tun und lebensrettende Hilfe zu leisten. US-Militärflugzeuge fliegen regelmäßig den nahegelegenen Stützpunkt Tanf an und bringen Hilfsgüter und Personal dorthin.
In den Jahren 2023 und 2024 brachte die in Washington ansässige Syrian Emergency Task Force (SETF) Hilfsgüter auf dem Luftweg in das Lager und nutzte dabei den verfügbaren Platz in den Frachtflugzeugen des US-Militärs, die den Stützpunkt Tanf anflogen und wieder verließen. Die SETF-Mitarbeiter*innen vor Ort transportierten die Hilfsgüter dann vom Stützpunkt Tanf zum Lager Rukban. Solche Operationen zeigen, dass die USA nicht nur die Kontrolle über das Gebiet haben, sondern auch über die Mittel verfügen, um humanitäre Hilfe zu leisten.
„Angesichts des unermesslichen Leids können und müssen die USA mehr tun, um die verheerende humanitäre Krise in Rukban zu bewältigen. Es liegt in ihrer Verantwortung, die Rechte der Bewohner*innen von Rukban auf Grundversorgung mit Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung zu erfüllen“, sagte Aya Majzoub.