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In Österreich ist Wohnungs- und Obdachlosigkeit alltägliche Realität für viele Menschen. 2020 waren knapp 20.000 Menschen als wohnungs- und obdachlos registriert, die Dunkelziffer ist wohl noch höher.
Gleichzeitig sind viele Schicksale wohnungsloser Menschen weitgehend unsichtbar und haben kaum etwas mit den gängigen Vorurteilen zu tun. Höchste Zeit also, mit einigen Mythen über Wohnungs- und Obdachlosigkeit aufzuräumen.
Wir haben uns fünf gängige Mythen angesehen. Unsere Researcher*innen haben mit Betroffenen gesprochen und mit Expert*innen der Obdach- und Wohnungslosenhilfe. Unser Fazit: Es bleibt nicht viel übrig, wenn man die gängigen Mythen genauer hinterfragt. Los geht's!
"Wer in Österreich obdachlos wird, ist selbst schuld."
Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist nie die Schuld des einzelnen Menschen – selbst wenn es Anknüpfungspunkte zu seiner*ihrer persönlichen Biografie gibt. Meist führt das Zusammenspiel von strukturellen Problemen und persönlichen Schicksalsschlägen dazu, dass Menschen wohnungs- und obdachlos werden.
Auf struktureller Ebene zählen dazu unter anderem Armut, prekäre Arbeit, das Fehlen von leistbarem Wohnraum und auch geschlechtsspezifische Gewalt.
Steigende Mietpreise treffen insbesondere Menschen, die in Armut leben. Denn sie geben bereits einen hohen Anteil ihres Einkommens für Wohnkosten aus.
Unvorhergesehene persönliche Lebensereignisse wie Trennung, der Tod einer*s Angehörigen, Jobverlust oder Krankheit erhöhen das Risiko für uns alle, wohnungs- oder obdachlos zu werden.
Es kann schnell gehen: Ein Schicksalschlag trifft auf ungünstige strukturelle Voraussetzungen, wie zum Beispiel zu wenig leistbarer Wohnraum in deiner Stadt oder mangelnde soziale Absicherung.
Plötzlich findest du dich in einem Teufelskreis wieder: Stell dir vor, wie schwierig es ist, eine Arbeit zu finden, wenn du keine Wohnung hast – und umgekehrt. Ohne geregeltes Einkommen bekommt man auch schwer eine Wohnung.
Du siehst: Menschen in Obdachlosigkeit als Verursacher*innen ihres eigenen Unglücks anzusehen, greift zu kurz. Wir müssen die strukturellen Faktoren angehen, statt Menschen in Wohnungslosigkeit zu stigmatisieren.
Johannes (*Name geändert)Wenn man ausgeschlossen ist, das ist grausam. Es ist eine grausame Schattengesellschaft. Man repräsentiert alles, was die Gesellschaft ausklammern möchte, jedes Stigma, jedes Vorurteil. Das zu ertragen ist so schwierig und schwerwiegender als alles andere.
"Im Sommer haben es obdachlose Menschen gut!"
Dass sich Obdachlosigkeit im Sommer anfühlt "wie ein langer Urlaub", ist natürlich falsch. Aufgrund der Klimakrise nehmen nicht nur die Durchschnitttemperaturen in Österreich zu, sondern auch die Anzahl der Hitzetage.
Für Menschen, die obdachlos sind, ist die Hitze besonders gefährlich. Denn sie haben keinen sicheren und geschützten Rückzugsort und sind dem Wetter und Extremwetterereignissen stärker ausgesetzt.
Hitze bedeutet immer eine zusätzliche Belastung für den Körper. Aber für Menschen, die obdachlos sind, kann sie unter anderem aufgrund der folgenden Faktoren eine zusätzliche Bedrohung darstellen.
Flüssigkeitsmangel
Keime
Sonnenbrände
Sonnenstich
Gefäßerweiterungen
Suchterkrankungen
Ajoki Kalo, Gesundheits- und Krankenpflegerin im neunerhaus GesundheitszentrumDie Menschen kommen in der Hitze mit den schwersten Sonnenbränden zu uns. Das nimmt fürchterliche Ausmaße an, es kommt rasch zu Infektionen und geht mit massiven Schmerzen einher.
Ein BetroffenerIm Winter gibt es das Winterpaket. Jeder Mensch kommt dann irgendwo unter. Aber im Sommer sperren die dann alles wieder zu. Warum gibt man den Menschen nicht auch im Sommer die Chance? Das ist total unlogisch. Im Winter kann ich wohin, weil es kalt ist, aber im Sommer soll ich nicht dorthin, weil es warm ist?
Ein BetroffenerWir gehen rüber auf die andere Straßenseite, in den Schatten. Dann kommt die Polizei und sagt, dass wir wieder auf die andere Seite gehen müssen – in die Sonne! Sie sagen, dass sich die Nachbarn aufgeregt haben, weil die Kinder schlafen wollen. Am Gürtel! Das Problem ist, dass es zwei Polizeistellen gibt. Auf jeder Seite. Und die schicken uns dann alle hin und her. Da brennt aber die Sonne runter.
"Es gibt doch genug Hilfsangebote, die muss man nur annehmen!"
Vielleicht hast du es schon einmal gehört oder selbst gedacht: „In Österreich muss niemand auf der Straße leben, unser Sozialsystem fängt doch jede*n auf!“ Fakt ist: In Österreich funktioniert der Sozialstaat für viele gut. Doch Fakt ist auch: Nicht für alle. Nicht alle Menschen, die Unterstützung benötigen, bekommen diese auch.
Für viele Menschen gibt es große Hürden. Das können einerseits bürokratische Hürden sein: Im Rahmen unserer Recherche berichteten uns Expert*innen und Betroffene, dass das System rund um die Antragstellung von Unterstützungsleistungen äußerst bürokratisch ist. Für viele ist es schwierig, an Informationen zu kommen, und sich in dem System mit vielen verschiedenen Stellen zurechtzufinden.
Auch Sprachbarrieren erschweren den Zugang – einerseits für nicht-deutschsprachige Menschen, und andererseits aufgrund oftmals hochbürokratischer Behördensprache, mit der nicht jeder Mensch zurechtkommt.
Dazu kommt, dass in Österreich per Gesetz bestimmte Personengruppen vom Zugang zur Wohnungslosenhilfe ausgeschlossen werden, wenn sie bestimmte Kriterien nicht erfüllen. Das gilt sowohl für Österreicher*innen, als auch Nicht-Österreicher*innen. Zu den Kriterien zählt zum Beispiel:
Die einzige Möglichkeit, die Menschen bleibt, die diese Kriterien nicht erfüllen, sind Notunterkünfte. Doch Notunterkünfte sind für viele Menschen keine echte Lösung, weil sie hier kaum Beratung und Unterstützung erhalten und die Unterkunft tagsüber wieder verlassen müssen – und aufgrund vieler weiterer Faktoren, die wir uns im nächsten Abschnitt genauer ansehen.
Niemand muss auf der Straße schlafen, es gibt genug Notschlafstellen!
Menschen, die in einer Notschlafstelle übernachten, müssen einen kleinen finanziellen Beitrag dafür leisten. Viele Menschen, die zum ersten Mal in eine Notschlafstelle kommen, wissen das nicht. Oft haben sie nicht genug Geld bei sich, um für die Notschlafstelle zu bezahlen. Das bereitet diesen Menschen zusätzlichen Stress. Manchmal ist die einzige Möglichkeit, die ihnen dann bleibt, zu betteln. Betteln ist mit großer Scham verbunden, wie uns auch Interviewpartner*innen schilderten
Ein BetroffenerDas Gefühl, wenn man bettelt, kann man nicht beschreiben. Es ist nicht nur Scham… Dieses Gefühl kann man nicht in Worte fassen. Es war schrecklich.
In Notunterkünften gibt es kaum Privatsphäre. Mehrbettzimmer oder Schlafsäle sind nach wie vor weit verbreitet. Besonders für Frauen sind diese Unterkünfte oft keine Lösung. Gerade wenn Frauen Gewalt erlebt haben, fühlen sie sich in Notunterkünften nicht sicher. Doch die meisten Unterstützungsangebote sind in erster Linie auf die Bedürfnisse von Männern ausgerichtet. In vielen Orten Österreichs gibt es nicht genug Angebote für Frauen und junge Erwachsene.
In Notunterkünften herrschen zudem strenge Hausregeln, die zum Beispiel Haustiere verbieten. Gerade Haustiere sind aber häufig ein wichtiger Bezugspunkt für Menschen, die von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit betroffen sind.
Aufstockung des Angebots in Wien: Zumindest in Wien wird diesen Winter generell das Angebot aufgestockt. Die Wiener Wohnungslosenhilfe erweitert im Winter ihr Platzangebot, um die für obdachlose Menschen besonders harte Zeit zu überbrücken. Von 2. November 2022 bis 2. Mai 2023 stehen rund 1.000 zusätzliche Plätze in Notquartieren zur Verfügung. Im Jahr 2022 blieben nach dem Ende dieses "Winterpakets" 350 Plätze geöffnet, und zwar speziell für aufgrund von Alter oder Krankheit besonders vulnerable Menschen.
Österreichweit sollten weitere gruppenspezifische Angebote dringend umgesetzt werden, um sicherzustellen, dass auch die besonderen Bedürfnisse von Frauen, jungen Erwachsenen, Migrant*innen, LGBTIQ Personen berücksichtigt werden.
"Odachlose sind hauptsächlich alte Männer mit Suchtproblemen!"
Stereotype Vorstellungen über wohnungs- und obdachlose Menschen sind häufig männlich geprägt. Die Zuspitzung auf diese eine Bevölkerungsgruppe und auf Suchterkrankungen hat mit der Realität wenig zu tun, wie die folgenden Fakten zeigen.
Die Zahl der Menschen in Obdach- und Wohnungslosigkeit belief sich im Jahr 2020 in Österreich Schätzungen zufolge auf knapp 20.000. Etwa 31% davon waren Frauen.
Allerdings gibt es keine genaue Erhebung, wie viele Menschen tatsächlich von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen sind. Ein Grund dafür ist auch die sogenannte „versteckte Wohnungslosigkeit“. Vor allem Frauen versuchen ihre Wohnungslosigkeit zu verstecken, um dem sozialen Stigma zu entgehen. Menschen in versteckter Wohnungslosigkeit leben bei Partner*innen oder Familienmitgliedern. Dadurch sind sie oft den Risiken von Ausbeutung ausgesetzt.
Eine Vertreterin der Autonomen Österreichischen FrauenhäuserViele von Gewalt betroffene Frauen können obdachlos werden. Und wenn es da nichts gibt, dann kommen sie in die verdeckte Wohnungslosigkeit.
Wohnungs-und Obdachlosigkeit ist häufig direkt mit systematischen Diskriminierungsmustern verbunden, die in unverhältnismäßigem Umfang bestimmte Gruppen betreffen, neben Frauen auch besonders Jugendliche, Kinder, Menschen mit Behinderungen, Migrant*innen und Geflüchtete, Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit in Armut leben, und LGBTIQ-Personen.
Suchterkrankungen können bei wohnungs- und obdachlosen Menschen ein Thema sein, sowohl als Folge als auch als Ursache der Obdachlosigkeit. Doch der Blick auf die betroffenen Personengruppen und die Gründe für Wohnungs- und Obdachlosigkeit zeigt deutlich: Es gibt nicht den einen Lebensweg, der auf die Straße führt. Die Wahrheit ist: Obach- und Wohnungslosigkeit kann jede*r*m von uns passieren.
Fordere mit uns gemeinsam ein menschenwürdiges Zuhause. Für alle Menschen in Österreich. Dazu braucht es wirksame Maßnahmen auf struktureller Ebene sowie eine verfassungsrechtliche Verankerung des Menschenrechts auf Wohnen.
Unterzeichne jetzt die Petition an Bundesminister Rauch und die neun Landeshauptleute.