© REUTERS / Ints Kalnins
© REUTERS / Ints Kalnins
presse

Lettland: Pushbacks, illegale Inhaftierung und Missbrauch von Geflüchteten und Migrant*innen

13. Oktober 2022

Zusammenfassung

In Lettland haben die Behörden Geflüchtete und Migrant*innen gewaltsam über die belarussische Grenze zurückgeschoben und viele von ihnen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, darunter auch Folter und geheime Haft, die dem Verschwindenlassen gleichkommen könnte. Dies geht aus einem neuen Bericht von Amnesty International hervor.

Der Bericht mit dem Titel Latvia: Return home or never leave the woods deckt auf, dass im vergangenen Jahr zahlreiche Migrant*innen und Geflüchtete – auch Minderjährige – willkürlich an unbekannten Orten in Wäldern festgehalten und rechtswidrig nach Belarus zurückgeschickt worden sind. Viele der Betroffenen wurden geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert, unter anderem an den Genitalien. Einige wurden unter Verstoß gegen das Völkerrecht dazu gezwungen, „freiwillig“ in ihre Herkunftsländer zurückzukehren.

Der neue Amnesty-Bericht zu Lettland folgt auf eine Reihe von Berichten, in denen die Organisation ähnliche Menschenrechtsverstöße gegen Geflüchtete und Migrant*innen durch die Behörden in Belarus, Polen und Litauen dokumentiert hat.

Lettland hat Geflüchteten und Migrant*innen ein grausames Ultimatum gestellt: entweder sie stimmen einer ‚freiwilligen‘ Rückkehr in ihr Herkunftsland zu, oder sie sitzen an der Grenze fest, wo ihnen nichts als Inhaftierung, Folter und rechtswidrige Abschiebung drohen.

erklärte Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International

In manchen Fällen kommt die willkürliche Inhaftierung an der Grenze möglicherweise dem Verschwindenlassen gleich. All dies hat nichts mit Grenzschutz zu tun und verstößt auf eklatante Weise gegen das Völkerrecht und EU-Recht“, erklärte Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International.

Ausnahmezustand an der Grenze zu Belarus

Am 10. August 2021 verhängte Lettland den Ausnahmezustand in der Grenzregion zu Belarus, nachdem die Zahl der dort ankommenden Menschen nach entsprechenden Anreizen durch die belarussischen Behörden stark angestiegen war.

Dieser Ausnahmezustand bedeutet, dass in vier Grenzregionen das Recht auf einen Asylantrag ausgesetzt ist und ermöglicht es den lettischen Behörden, Menschen nach Belarus abzuschieben. Dies verstößt gegen das EU-Recht, das Völkerrecht und den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (non-refoulement).

Die lettischen Behörden haben den Ausnahmezustand wiederholt verlängert, derzeit gilt er bis November 2022. Dies geschah, obwohl mit der Zeit immer weniger Menschen an die Grenze kamen und die Behörden selbst einräumten, dass die hohe Zahl der versuchten Grenzüberschreitungen darauf zurückging, dass dieselben Personen mehrfach versuchten, über die Grenze nach Lettland zu gelangen.

„Mehr als 150 Mal zurückgeschoben"

Seit Verhängung des Ausnahmezustands haben lettische Grenzschützer*innen in Zusammenarbeit mit inoffiziellen „Einsatzkommandos“, der Armee und der Polizei wiederholt rechtswidrige und gewaltsame Abschiebungen vorgenommen. Im Gegenzug schieben die belarussischen Behörden wiederum systematisch Menschen zurück nach Lettland.

Zaki, ein Iraker, der etwa drei Monate lang an der Grenze festsaß, sagte Amnesty International, dass er mehr als 150 Mal zurückgeschoben wurde, manchmal bis zu acht Mal pro Tag.

Während der Zeiträume zwischen diesen Pushbacks saßen die Betroffenen an der Grenze fest oder mussten sich in Zelten aufhalten, die von den Behörden in abgelegenen Waldstücken aufgebaut worden sind.

Die lettischen Behörden bestehen darauf, dass die Zelte lediglich für die Bereitstellung „humanitärer Hilfe“ genutzt würden. Die Recherchen von Amnesty International haben jedoch ergeben, dass es sich hierbei um streng bewachte Orte handelt, an denen Geflüchtete und Migrant*innen willkürlich festgehalten werden, bis sie in vielen Fällen rechtswidrig abgeschoben werden.

Wer nicht in Zelten festgehalten wurde, saß in manchen Fällen bei winterlichen Temperaturen von bis zu -20°C im Freien an der Grenze fest.

Sowohl an der Grenze als auch in den Zeltstädten beschlagnahmten die Behörden die Mobiltelefone der Betroffenen, um zu verhindern, dass sie mit der Außenwelt kommunizierten.

Der Umstand, dass Migrant*innen und Geflüchtete an unbekannten Orten in Zelten festgehalten wurden bzw. ohne Hilfe und Zugang zu Kommunikationsmöglichkeiten an der Grenze festsaßen, wo sie keinen sicheren Zufluchtsort hatten und ständig zwischen Lettland und Belarus hin- und hergeschoben wurden, bedeutet, dass sie einer Art der geheimen Haft ausgesetzt waren, die dem Verschwindenlassen gleichkommen könnte.

Amnesty: Ausnahmezustand muss beendet werden

Aufgrund des Ausnahmezustands hatten die Menschen an der Grenze keinen wirksamen Zugang zu Asylverfahren und lettische Beamt*innen nötigten einige von ihnen, einer „freiwilligen“ Rückkehr in ihre Herkunftsländer zuzustimmen, wenn sie die Waldstücke verlassen wollten, in denen sie festgehalten wurden. Andere wurden in Hafteinrichtungen oder Polizeistationen durch Zwang oder Täuschung dazu gebracht, einer freiwilligen Rückkehr zuzustimmen.

In manchen Fällen ignorierte die lettische Vertretung der Internationalen Organisation für Migration Beweise dafür, dass Personen, die im Rahmen einer „freiwilligen“ Rückkehr nach Belarus gebracht wurden, in Wirklichkeit nicht freiwillig eingewilligt hatten.

„Lettland, Litauen und Polen begehen nach wie vor schwere Menschenrechtsverstöße und rechtfertigen dies damit, dass sie einem ‚Hybridangriff‘ durch Belarus ausgesetzt seien. Mittlerweile naht der Winter und es überqueren wieder mehr Menschen die Grenze. Der Ausnahmezustand ermöglicht es den lettischen Behörden weiterhin, Menschen rechtswidrig nach Belarus abzuschieben. Viele weitere Personen sind daher möglicherweise erneut Gewalt, willkürlicher Inhaftierung und anderen Menschenrechtsverstößen ausgesetzt, ohne dass die Vorgänge ausreichend oder überhaupt durch unabhängige Stellen kontrolliert werden“, so Eve Geddie.

Die beschämende Art und Weise, in der Lettland Menschen behandelt, die an den Landesgrenzen ankommen, stellt die europäischen Institutionen auf eine harte Probe. Sie müssen dringend dafür sorgen, dass Lettland den Ausnahmezustand beendet und das Recht auf Asyl für alle wiederherstellt, die dort Schutz suchen, ungeachtet ihrer Herkunft oder der Art ihrer Einreise.

Die Namen und persönlichen Informationen der Gesprächspartner*innen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert bzw. nicht angegeben.

Hintergrund

In Lettland, Litauen und Polen nehmen Pushbacks an den Grenzen zu Belarus wieder zu. Gleichzeitig priorisiert der EU-Rat die Annahme einer Verordnung über die „Instrumentalisierung“ von Migrant*innen und Asylsuchenden.

Unter dieser Verordnung hätten EU-Mitgliedstaaten, die – wie im Fall von Lettland – Situationen der „Instrumentalisierung“ im Bereich Migration und Asyl ausgesetzt sind, das Recht, von ihren EU-rechtlichen Verpflichtungen abzuweichen. Dieser Verordnungsentwurf wirkt sich unverhältnismäßig stark auf die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen aus und riskiert die Untergrabung der einheitlichen Anwendung des EU-Asylrechts.

Im Juni 2022 entschied der Europäische Gerichtshof, dass die litauische Gesetzgebung zu Asyl und Migration mit EU-Recht unvereinbar ist, da sie auf der Grundlage von Ausnahmezustandsbestimmungen die Beantragung von Asyl einschränkt und die automatische Inhaftierung von Asylsuchenden vorsieht.

Die Analyse und Schlussfolgerungen des Gerichtshofs sollten ebenfalls direkt auf Lettland anwendbar sein, wo der Ausnahmezustand seit August 2021 de facto dafür sorgt, dass die meisten Personen, die „irregulär“ aus Belarus einreisen oder einzureisen versuchen, keinen Zugang zu Asyl haben.