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Der neuer Amnesty-Bericht Cali: In the epicentre of repression* zeigt massive repressive Praktiken auf, die in Kolumbien gegen Demonstrierende eingesetzt werden. Dazu gehören der Einsatz tödlicher Waffen, der exzessive und unrechtmäßige Einsatz von Tränengas, sowie willkürliche Inhaftierungen und Folter. Die dokumentierten Fälle stehen repräsentativ für Hunderte von weiteren Berichten von Demonstrierenden, Menschenrechtsverteidiger*innen und Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen und veranschaulichen die Vorgehensweise der kolumbianischen Sicherheitskräfte im ganzen Land, so Amnesty International anlässlich der Veröffentlichung des Berichts am 30. Juli.
„Die kolumbianischen Behörden haben die Menschenrechte der friedlichen Demonstrant*innen in Cali verletzt, indem sie sie mit übermäßiger und unnötiger Gewalt auseinandertrieben. Unter dem Vorwand, die Ordnung wiederherzustellen, wurden Hunderte schwer verletzt, Dutzende junge Menschen verloren ihr Leben“, sagte Erika Guevara-Rosas, Direktorin für die Region Amerikas bei Amnesty International.
Was in Cali geschah, macht deutlich, wie massiv die Behörden auf Proteste reagieren und verweist auf die wahren Ziele hinter diesen Repressionsmaßnahmen: Angst zu verbreiten, friedliche Proteste zu unterbinden und diejenigen zu bestrafen, die in einem gerechteren Land leben wollen und dies auch einfordern.
Erika Guevara-Rosas, Direktorin für die Region Amerikas bei Amnesty International
Cali ist die Hauptstadt des Departamentos Valle del Cauca. Sie liegt inmitten einer der am stärksten vom internen bewaffneten Konflikt in Kolumbien betroffenen Regionen, in der verschiedene bewaffnete Gruppen auch weiterhin aktiv sind. Tausende Menschen wurden vertrieben oder getötet. Cali ist die Stadt mit dem zweitgrößten afro-amerikanischen Bevölkerungsanteil in Lateinamerika und ist von Ungleichheit, Ausgrenzung und strukturellem Rassismus geprägt. Diese Rahmenbedingungen haben dazu beigetragen, dass Cali zum Epizentrum der Proteste wurde – und zu der Stadt, aus der die massivsten Menschenrechtsverletzungen bei deren versuchten Unterdrückung gemeldet wurden.
Seit 28. April befindet sich Kolumbien im „Nationalstreik“ und seitdem finden in Cali Massendemonstrationen statt. Zahlreichen Berichten zufolge gingen sowohl die Sicherheitskräfte als auch bewaffnete zivile Gruppen mit massiver Gewalt gegen junge Demonstrierende vor, um die Proteste zu unterbinden. Nach wie vor schränken die Behörden das Recht auf friedlichen Protest ein.
Amnesty International hat eine umfassende digitale Überprüfung von audiovisuellem Material vorgenommen, die bestätigte, dass Beamt*innen der Nationalpolizei, insbesondere Angehörige der Mobilen Anti-Terror-Einheit ESMAD (Escuadrón Móvil Antidisturbios), bei den Protesten übermäßige und unnötige Gewalt einsetzten. Außerdem dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Angriffe auf Demonstrierende und Menschenrechtsverteidiger*innen durch bewaffnete paramilitärisch organisierte Gruppen, die Einheiten der Nationalpolizei begleiteten und von diesen geduldet wurden.
Der Bericht dokumentiert drei verschiedene Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Cali. Der erste Fall bezieht sich auf den Einsatz tödlicher Waffen – darunter 5,56-mm-Tavor-Gewehre – gegen friedliche Demonstrierende am 3. Mai. An dieser als „Operation Siloé“ bezeichneten Aktion waren Beamt*innen der Nationalpolizei, Angehörige der ESMAD sowie der Sondereinsatzgruppe der kolumbianischen Nationalpolizei (Grupo de Operaciones Especiales de la Policía Nacional de Colombia, GOES) beteiligt. In dieser Nacht wurden mindestens drei Todesopfer verzeichnet, die durch Schussverletzungen starben. Einer von ihnen ist der junge Demonstrant Kevin Agudelo. Hunderte wurden verletzt und mehrere willkürlich festgenommen. Außerdem verwendeten die Polizeikräfte bei ihrem unrechtmäßigen und überzogenen Einsatz von Tränengas – auch gegen friedliche Demonstrierende, die sich nirgendwo hinbewegen konnten – sogenannte Venom-Projektile, die für den Polizeieinsatz völlig ungeeignet sind. Mit diesen High-Tech-Projektilen werden mehrere Kartuschen mit Tränengas, Reizgas oder Schock- und Blendmunition gleichzeitig verschossen.
Der zweite untersuchte Vorfall ist ein Angriff am 9. Mai auf Angehörige der indigenen Gemeinschaft der Minga, die an den Protesten teilgenommen hatten. Bei den Angreifer*innen handelt es sich um bewaffnete Zivilpersonen, die von Beamt*innen der Nationalpolizei beobachtet wurden, die aber nicht einschritten. An diesem Tag wurden elf Angehörige der Minga verletzt, darunter die indigene Menschenrechtsverteidigerin Daniela Soto.
Der dritte und letzte Fall bezieht sich auf die Ereignisse vom 28. Mai, als sowohl die Nationalpolizei als auch bewaffnete Zivilpersonen, die mit den Polizeikräften zusammenarbeiteten, in der Nähe der Universität Valle mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vorgingen. An diesem Tag wurden ein Dutzend junger Protestierender – darunter Álvaro Herrera, Noé Muñoz und Sebastián Mejía – von bewaffneten Gruppen in Zivil zusammengeschlagen, festgehalten und anschließend der Nationalpolizei übergeben. Álvaro Herrera und Sebastián Mejía gaben an, auch während ihrer unrechtmäßigen Festnahme gefoltert und grausam und unmenschlich behandelt worden zu sein.
Die drei dokumentierten Übergriffe sind keine Einzelfälle. Vielmehr spiegeln sie ein Muster der Gewalt seitens der kolumbianischen Behörden wider, die auf die Proteste mit Stigmatisierung, Kriminalisierung und Militarisierung, sowie mit unrechtmäßigen Repressionsmaßnahmen durch die Polizei reagiert haben. Als Präsident Iván Duque am 28. Mai den Einsatz des Militärs in mehreren Städten – darunter auch Cali – anordnete, war er weit davon entfernt, Dialogbereitschaft zu zeigen. Mit seiner Entscheidung, Militäreinheiten auf die Straßen zu schicken, die durch einen mehr als sechs Jahrzehnte andauernden bewaffneten Konflikt geprägt sind, heizte er die Proteste vielmehr weiter an.
Im Vorfeld eines Aktionstags am 20. Juli, an dem Vertreter*innen verschiedener sozialer Gruppen und Bewegungen teilnahmen, hat die Regierung des Departamento Valle del Cauca Maßnahmen erlassen, die den Verkehr und/oder die Einreise von Personen in das Departamento zwischen dem 16. und 22. Juli und somit das Recht auf friedlichen Protest einschränkten.
Der Bericht verweist auch auf die jüngsten Beobachtungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IAKMR), die Kolumbien besucht hatte. Amnesty International fordert die kolumbianischen Behörden auf, den Empfehlungen der IAKMR nachzukommen und mit dem kürzlich eingerichteten Sonderbeobachtungsmechanismus der IAKMR in Kolumbien zusammenzuarbeiten und ihn nicht zu behindern.
Außerdem fordert Amnesty International in dem Bericht die kolumbianischen Behörden dazu auf, umgehend und unmissverständlich die Beendigung der repressiven Praktiken der Sicherheitskräfte anzuordnen. Dies schließt das Verbot des Einsatzes von tödlichen Waffen zur Auflösung von Menschenmengen sowie das Verbot des Einsatzes von Tränengas gegen friedliche Versammlungen und/oder auf eine exzessive Weise ein, die unnötige Schäden verursachen könnte – in Übereinstimmung mit den 30 Regeln zum Einsatz von chemischen Reizstoffen bei Polizeieinsätzen, die diese Woche von Amnesty International veröffentlicht wurden.
Ebenso müssen sorgfältige, unabhängige und unparteiische Ermittlungen zu den während des Nationalstreiks begangenen Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverbrechen, insbesondere in der Stadt Cali und den im Bericht genannten Fällen, eingeleitet werden. Dabei müssen alle Zuständigkeiten innerhalb der Befehlskette der Sicherheitskräfte sowie die Beteiligung bewaffneter Zivilpersonen, die von den Sicherheitskräften geduldet wurde, berücksichtigt werden. Für diese schweren Verbrechen darf es keine Straffreiheit geben.
Am 12. Juli bat Amnesty International beim Verteidigungsminister, dem Generaldirektor der Nationalpolizei und der Generalstaatsanwaltschaft um Informationen zu den drei im Bericht dokumentierten Fällen. Für diese Auskunft setzte die Menschenrechtsorganisation eine zehntägige Frist, damit sie noch im Bericht berücksichtigt werden könnte. Bis zum 23. Juli antwortete jedoch nur ein einziger Richter eines Militärgerichts. Reaktionen seitens der anderen angefragten Behörden blieben bis zum Stichtag aus.
Am 19. Juli stellte Präsident Ivan Duque der Öffentlichkeit den „Plan zur umfassenden Umstrukturierung der Nationalpolizei“ vor. Dessen Ziel sei insbesondere, den Schutz der Menschenrechte zu stärken. Trotz dieser Ankündigung erhielt Amnesty International am 20. Juli Berichte aus denen hervorgeht, dass Angehörige der ESMAD bei Protesten in Bogotá, Baranquilla, Cali und Medellín unrechtmäßige Gewalt eingesetzt haben, wobei zahlreiche Demonstrierende verletzt wurden.
Amnesty International hofft, dass der von Präsident Ivan Duque angekündigte Plan einer Polizeireform nicht nur ein leeres Versprechen auf einem Stück Papier ist und, dass dieser auch die vom Obersten Gerichtshof im September 2020 angeordneten Reformen sowie eine Änderung des repressiven Modus Operandi der Nationalpolizei gegen die friedlichen Proteste beinhaltet
Erika Guevara-Rosas, Direktorin für die Region Amerikas bei Amnesty International