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Unter dem Befehl von Nicolás Maduro haben venezolanische Sicherheitskräfte außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt und exzessive Gewalt angewendet. Sie haben zudem Hunderte Menschen willkürlich inhaftiert, darunter auch Teenager. Das zeigen aktuelle Recherchen von Amnesty International in Venezuela, die die Gewalteskalation bei den Protesten Ende Jänner dokumentieren.
In nur fünf Tagen starben während der Proteste mindestens 41 Menschen an Schusswunden. Mehr als 900 Menschen wurden willkürlich festgenommen. Allein am 23. Jänner – dem Tag der landesweiten Demonstrationen – wurden 770 willkürliche Festnahmen gemeldet.
Mit dieser repressiven Politik soll die venezolanische Bevölkerung kontrolliert und insbesondere Bewohner*innen der verarmten Stadtteile bestraft werden, die zwischen dem 21. und 25. Jänner protestiert hatten.
Maduros Regierung geht gegen die ärmsten Menschen im Land vor. Statt sie zu schützen, wie er behauptet, bedroht, inhaftiert und ermordet die Regierung diese Menschen.
Erika Guevara-Rosas, Direktorin der Region Amerikas bei Amnesty International
„Die Behörden unter Nicolás Maduro versuchen mit einer verabscheuungswürdigen Politik der Angst und Bestrafung soziale Kontrolle über diejenigen auszuüben, die in Venezuela einen Regierungswechsel fordern. Maduros Regierung geht gegen die ärmsten Menschen im Land vor. Statt sie zu schützen, wie er behauptet, bedroht, inhaftiert und ermordet die Regierung diese Menschen“, sagt Erika Guevara-Rosas, Direktorin der Region Amerikas bei Amnesty International.
Venezuela steckt seit Jahren in einer schweren Menschenrechtskrise. Der Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten, die Hyperinflation, Gewalt und politische Unterdrückung haben seit 2015 mehr als drei Millionen Venezolaner*innen zur Flucht gezwungen.
Angesichts dieser düsteren Realität gehen Tausende auf die Straße und fordern einen Regierungswechsel. Zwischen dem 21. und 25. Jänner kam es zu zahlreichen Demonstrationen. Viele dieser Proteste fanden in den verarmten Stadtteilen statt, in denen die Forderung nach einem Regierungswechsel bis dahin nicht so sichtbar geworden war wie an anderen Orten. In diesen Gegenden hängen die Bewohner*innen zu einem Großteil von den zurzeit eingeschränkten staatlichen Nahrungsmittelprogrammen ab. Gerade dort sind die Colectivos – bewaffnete zivile Gruppen, die Nicolás Maduro unterstützen – überall präsent.
Die Recherchen von Amnesty International in den Bundesstaaten Lara, Yaracuy, Vargas sowie mehreren Stadtteilen von Caracas bringen ein typisches Muster zutage: Sie zeigen, dass die Behörden der Bundesstaaten zur Kontrolle der Bevölkerung selektiv außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt haben.
Vor allem die Spezialeinheit FAES (Fuerza de Acciones Especiales) der Nationalpolizei PNB (Policía Nacional Bolivariana) ging gegen Menschen vor, die sich auf irgendeine Weise an den Protesten beteiligten. Die verarmten Stadtteile von Caracas und andere wirtschaftlich benachteiligte Gegenden im Land sind von dieser Gewalt besonders betroffen. Die Zahl der Opfer ist hier am höchsten. Die Toten werden dazu noch nun als „Kriminelle“ hingestellt, die bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften zu Tode kamen.
Amnesty International hat sechs außergerichtliche Hinrichtungen durch die FAES an verschiedenen Orten im ganzen Land dokumentiert. Die Opfer standen mit den Protesten in Verbindung, die in den Vortagen stattgefunden hatten. Die Kritik, die sie an Nicolás Maduro geäußert hatten, war in den Sozialen Medien verbreitet worden. In allen sechs Fällen wurde ähnlich vorgegangen: Alle sechs Opfer waren junge Männer und die Behörden sagten über sie, dass sie bei Zusammenstößen mit der FAES zu Tode gekommen seien. Die FAES manipulierte die Tatorte und stellte die Opfer als Kriminelle dar. Sie ließ verlauten, dass mehrere von ihnen schon vorher straffällig geworden seien und versuchte damit, ihren Tod zu rechtfertigen.
„Die Behörden möchten uns weismachen, dass diejenigen, die während der Proteste zu Tode gekommen sind – hauptsächlich junge Menschen aus Gegenden mit geringem Einkommen – Kriminelle waren. Doch ihr einziges Verbrechen war, dass sie es wagten, eine Veränderung und ein Leben in Würde einzufordern“, sagt Erika Guevara-Rosas.
Luis Enrique Ramos Suárez war 29 Jahre alt, als ihn Angehörige der FAES am 24. Jänner in der Stadt Carora außergerichtlich hinrichteten. Am Tag zuvor war eine Audio-Nachricht in den Sozialen Medien verbreitet worden, in der Proteste gegen Nicolás Maduro und das Büro des Bürgermeisters von Carora angekündigt worden waren. In dieser Audio-Nachricht wurde Luis Enrique Ramos Suárez unter seinem Spitznamen als einer der Organisator*innen genannt.
Am 24. Jänner durchsuchten 20 schwer bewaffnete und überwiegend maskierte Angehörige der FAES rechtswidrig das Haus der Familie Ramos Suárez. Sie misshandelten zehn anwesende Familienmitglieder, darunter sechs Kinder. Nachdem sie Luis Enrique Ramos Suárez unter seinem Spitznamen identifiziert hatten, ließen sie ihn in der Mitte des Raums knien. Ein FAES-Angehöriger machte Fotos, andere schlugen ihn.
Sie sperrten die anderen Familienmitglieder in separate Zimmer des Hauses, bedrohten sie und schlugen sie. Dann zwangen sie die Familie, das Haus zu verlassen, und brachten sie mit mehreren Fahrzeugen der Nationalpolizei an einen Ort in zwei Kilometer Entfernung. Wenige Minuten danach schossen sie Luis Enrique Ramos Suárez zweimal in die Brust. Er war auf der Stelle tot.
Nach Angaben von Zeug*innen feuerten FAES-Angehörige nach der Hinrichtung von Luis Enrique Ramos Suárez im Haus ihre Waffen ab, um einen Schusswechsel vorzutäuschen. Die FAES-Angehörigen konstruierten Beweismittel und manipulierten darüberhinaus auch den Tatort, indem sie den Leichnam zu einem Fahrzeug zogen und ihn darin schließlich zum Leichenschauhaus brachten. Mit diesem Vorgehen verstießen sie gegen jede Regel einer kriminaltechnischen Untersuchung.
Amnesty International dokumentierte außerdem, dass die Sicherheitskräfte zwei junge Männer erschossen, die an den Protesten teilgenommen hatten. Ein weiterer wurde angeschossen. Sowohl die PNB als auch die Bolivarische Nationalgarde GNB (Guardia Nacional Bolivariana) waren an solchen Operationen beteiligt.
Der 19-jährige Bäcker Alixon Pizani starb am 22. Jänner an einer Schussverletzung in der Brust, als er im westlich von Caracas liegenden Catia mit einer Gruppe von Freund*innen an den Protesten teilnahm. Augenzeug*innen berichteten später, wie ein Beamter in einer PNB-Uniform von einem Motorrad aus wahllos in die Menge schoss und so zwei Aktivist*innen schwer verletzte.
Nachdem Alixon Pizani getroffen wurde und kein Krankenwagen kam, brachten ihn seine Freund*innen in ein Gesundheitszentrum. Kurz darauf starb er dort. Seine Familie berichtete, dass Angehörige der Spezialeinheit FAES am Krankenhauseingang auf sie und Alixon Pizanis Freund*innen schossen. Sie hätten sich sofort im Inneren des Gebäudes in Sicherheit gebracht. Bisher weist nichts darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung der Vorfälle eingeleitet hat.
Nach Angaben der venezolanischen Menschenrechtsorganisation Foro Penal haben die Behörden zwischen dem 21. und 31. Jänner im gesamten Land 137 Kinder und Jugendliche festgenommen. Dazu gehört ein von Amnesty International dokumentierter Fall, bei dem sechs Personen, darunter vier Teenager, am 23. Jänner festgenommen wurden. Sie hatten an einer Protestveranstaltung teilgenommen bzw. einfach aus der Nähe zugeschaut.
In einem Interview mit Amnesty International gaben sie an, sie seien bei der Festnahme von Sicherheitskräften geschlagen und als „guarimberos“ (Protestierende, die Gewalt einsetzen) und „Terroristen“ beschimpft worden. Außerdem habe man sie Reizmitteln ausgesetzt, sie am Schlafen gehindert und gedroht, sie zu töten. Sie erzählten, dass die Beamt*innen, die sie festgenommen hatten, verschiedenen Sicherheitskräften des Bundesstaates angehörten und von Personen in Zivil begleitet wurden.
Über 100 Jugendliche wurden festgenommen und einer grausamen Behandlung unterzogen, die zum Teil Folter darstellte. Das zeigt, wie weit die Behörden bereit sind zu gehen, um die Proteste zu stoppen und die Bevölkerung zu unterdrücken.
Erika Guevara-Rosas, Direktorin der Region Amerikas bei Amnesty International
Den vier Teenagern werden Straftaten vorgeworfen, die nach venezolanischem Recht nicht mit Haft geahndet werden. Trotzdem hat ein Gericht acht Tage Haft verfügt. Vier Tage davon mussten sie in einem Rehabilitationszentrum für Minderjährige verbringen – einer Militäreinrichtung, in der ihnen der Kopf kahlgeschoren wurde und sie gezwungen wurden Lieder wie „Wir sind Chavez‘ Kinder“ zu singen.
Am 29. Jänner erklärte eine der für diese Fälle zuständige Richterin, man habe sie angewiesen, die Minderjährigen in Haft zu halten, obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage gab. Nachdem sie diese Erklärung abgegeben hatten, wurde sie entlassen und verließ das Land. Den vier Jugendlichen droht nun ein Gerichtsverfahren. Ihre Freiheitsrechte sind nach wie vor eingeschränkt.
Für die Jugendlichen ist es frustrierend, in ihrem Alter in einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisensituation zu leben. Lernen, Essen und sich zu kleiden stellen eine tägliche Herausforderung dar. Einige denken darüber nach, Venezuela zu verlassen und in einem anderen Land eine bessere Zukunft zu finden.
„Das venezolanische Justizwesen scheint Betroffene von Menschenrechtsverletzungen komplett im Stich zu lassen. Die wenigen Menschen, die den Mut haben, Anzeige zu erstatten und Beschwerden einzureichen, erhalten keine Unterstützung. Sie sind sogar in Gefahr, weil die Behörden nicht reagieren,“ sagt Erika Guevara-Rosas.
Amnesty fordert, dass
die venezolanischen Behörden ihre in den vergangenen Jahren entwickelten Unterdrückungsmaßnahmen beenden und
ihre Verpflichtung erfüllen, allen Opfern von Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen unter dem Völkerrecht Gerechtigkeit, Wahrheit und Entschädigungen zu gewähren.
Da es nahezu unmöglich ist, den Justizweg in Venezuela zu beschreiten, fordert Amnesty International den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die in Venezuela herrschende Straflosigkeit zu beenden. Dazu sollte ein unabhängiges Untersuchungsgremium eingerichtet werden, das die Menschenrechtslage in dem Land beobachtet und darüber Bericht erstattet.
Darüber hinaus sollte die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs diese Fakten prüfen und wenn diese als begründet bewertet werden, in die Voruntersuchungen aufzunehmen, die derzeit zu Venezuela laufen.
Schließlich sollten die Staaten, denen die Menschenrechtslage in Venezuela ein Anliegen ist, zu prüfen, ob sie das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit anwenden wollen – damit Betroffenen, denen der Zugang zur Gerechtigkeit in ihrem eigenen Land verwehrt ist, dieser alternative Weg ermöglicht wird.