AMNESTY-Bericht: Meinungsfreiheit im Zuge der COVID-19-Pandemie weltweit stark eingeschränkt
19. Oktober 2021Staaten nützen Gesundheitskrise nach wie vor, um freie Berichterstattung zu zensurieren
Seit Beginn der weltweiten COVID-19-Pandemie schränkten viele Regierungen die Arbeit von Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen stark ein. Dadurch wurde der Zugang zu aktuellen Informationen zur globalen Gesundheitskrise erschwert und Fehlinformationen konnten sich leichter ausbreiten, wie aus einem neuen Bericht von Amnesty International hervorgeht.
Der Bericht Silenced and Misinformed: Freedom of Expression in Danger During Covid-19 macht deutlich, wie Zensur und Bestrafung durch Regierungen und Behörden die Qualität der verfügbaren Informationen negativ beeinflusst hat.
Durch die Pandemie ist eine gefährliche Situation entstanden, in der einige Regierungen neue Gesetze erlassen haben, um unabhängige Berichterstattung zu unterbinden und Menschen anzugreifen, die die Reaktion ihrer Regierung auf COVID-19 kritisierten oder die Maßnahmen hinterfragten. Regierungen haben so heftig wie nie zuvor in die Meinungsfreiheit eingegriffen und dadurch die Menschenrechte der Bevölkerung stark eingeschränkt.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Der Bericht zeigt auf, wie Kommunikationskanäle überwacht und attackiert sowie Medieneinrichtungen geschlossen wurden. Auch die Sozialen Medien wurden zensuriert – alles mit verheerenden Folgen für den Zugang der Öffentlichkeit zu lebenswichtigen Informationen über den Umgang mit COVID-19. „Viele Menschen wussten unter anderem nicht, wie sie sich selbst und ihre Gemeinschaften schützen können. Genau dieser Mangel an Informationen hat wahrscheinlich auch dazu beigetragen, dass fünf Millionen Menschen ihr Leben durch COVID-19 verloren haben“, so Annemarie Schlack deutlich.
Pandemie als Vorwand für Einschränkung der Meinungsfreiheit
Schlack fordert: „Die Einschränkung der Meinungsfreiheit ist gefährlich und darf nicht zur neuen Normalität werden. Die Beschränkungen haben keine Berechtigung und müssen unverzüglich aufgehoben werden.“ Augenscheinlich sei es aber, dass die Restriktionen der Meinungsfreiheit in manchen Ländern nicht nur zeitlich begrenzte, außerordentliche Maßnahmen zur Bewältigung einer vorübergehenden Krise seien, sondern ein Angriff auf die Menschenrechte, der bereits seit mehreren Jahren weltweit stattfindet.
Die Regierungen haben nun einen weiteren Vorwand gefunden, um ihren Angriff auf die Zivilgesellschaft fortzusetzen.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
China, Tansania, Russland: Gesetze zum „Verbot von Falschnachrichten“
Als Beispiel wird in dem Bericht unter anderem China genannt, dessen Regierung seit langem das Recht auf Meinungsfreiheit unterdrückt. Bereits im Dezember 2019, als Angehörige des medizinischen Personals sowie Bürgerjournalist*innen auf den Ausbruch einer unbekannten Krankheit hinweisen wollten, wurden sie von der Regierung ins Visier genommen. Bis Februar 2020 wurden gegen 5.511 Personen, die Informationen zum Ausbruch der Krankheit veröffentlicht hatten, Ermittlungsverfahren wegen „Fabrikation und absichtlicher Verbreitung falscher und schädlicher Informationen“ eingeleitet. Ein erschreckendes Beispiel ist die Bürgerjournalistin Zhāng Zhǎn, die im Februar 2020 nach Wuhan reiste, um über den Ausbruch von COVID-19 zu berichten. Im Mai 2020 verschwand sie dort. Später wurde bekannt, dass die Polizei sie festgenommen hatte. Ihr wurde vorgeworfen, „Streit angefangen und Ärger provoziert zu haben“, weshalb sie zu vier Jahren Haft verurteilt wurde.
Die Regierung von Tansania hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von Gesetzen eingeführt, um Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Mitglieder der politischen Opposition mundtot zu machen. Im Frühjahr 2020 wurden Gesetze zum Verbot und zur Kriminalisierung von „Falschnachrichten“ erlassen und Maßnahmen eingeführt, um die Medienberichterstattung über den Umgang der Regierung mit COVID-19 einzuschränken.
Während die Behörden in Nicaragua zunächst versuchten, die Auswirkungen der Pandemie herunterzuspielen und diejenigen einzuschüchtern, die Bedenken äußerten, nutzten sie COVID-19 im Oktober 2020, um das „Sondergesetz über Internetkriminalität“ einzuführen. Dieses ermöglicht es den Behörden seither, Regierungskritiker zu bestrafen und gibt ihnen einen großen Ermessensspielraum zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung.
Russland erweiterte im April 2020 das bestehende Falschnachrichtengesetz und hat begonnen, „die öffentliche Verbreitung von bekanntermaßen falschen Informationen“ zu bestrafen. Obwohl diese Gesetzesänderungen als Teil der Maßnahmen gegen COVID-19 deklariert wurden, werden sie vermutlich auch nach Ende der Pandemie in Kraft bleiben.
Fehlinformationen: Auch Betreiber Sozialer Medien in der Kritik
Der Amnesty-Bericht unterstreicht auch die Rolle der Sozialen Medien bei der schnellen Verbreitung von Fehlinformationen über COVID-19 und kritisiert, dass die Betreiberfirmen nicht genügend Sorgfalt walten lassen, um die Verbreitung falscher und irreführender Informationen zu verhindern.
Die Unmenge an Fehlinformationen stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit dar - egal ob sie von den Sozialen Medien kommt oder von Personen in einer Machtposition, die die Gesellschaft spalten und zu ihrem eigenen Vorteil Verwirrung stiften wollen.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Dadurch sei es für Einzelpersonen zunehmend schwieriger, sich eine fundierte Meinung zu bilden und auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Fakten Entscheidungen über die eigene Gesundheit zu treffen.
Amnesty International fordert alle Staaten auf, die Pandemie nicht länger als Vorwand zu benutzen, um die unabhängige Berichterstattung zu unterdrücken. Zensur bringt nichts bei der Bekämpfung von Fehlinformationen - freie und unabhängige Medien sowie eine starke Zivilgesellschaft hingegen schon. Weiters fordert Amnesty mit Nachdruck, dass das zerstörerische Geschäftsmodell von Big Tech (Amazon, Apple, Google, Facebook und Microsoft), das eine der Hauptursachen für die Verbreitung von Falsch- und Desinformationen im Internet ist, überarbeitet wird. „Auch die Betreiberfirmen der Sozialen Medien müssen aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken und Maßnahmen gegen die virale Verbreitung von Fehlinformationen ergreifen, indem sie unter anderem sicherstellen, dass ihre Geschäftsmodelle die Menschenrechte nicht gefährden“, so Schlack.