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Türkei: Folter und Misshandlung durch Polizei im Erdbebengebiet

5. April 2023

Amnesty International und Human Rights Watch berichten über Fälle von Folter und anderen Misshandlungen sowie über das Nichteingreifen bei gewalttätigen Übergriffen durch Ordnungskräfte, die in die von den Erdbeben vom 6. Februar verwüsteten Gebiete der Türkei geschickt wurden. Die Ordnungskräfte haben Menschen wegen des Verdachts auf Diebstahl und Plünderung verprügelt, gefoltert und anderweitig misshandelt, so die Menschenrechtsorganisationen. Eine Person starb in Gewahrsam, nachdem sie gefoltert wurde. In anderen Fällen schritten Sicherheitskräfte nicht ein, als Personen gewaltsam angegriffen wurden, weil man ihnen vermeintliche Straftaten vorwarf.

„Die erschütternden Berichte und Bilder von mutwilliger Gewalt durch Ordnungskräfte, die inmitten der schlimmsten Naturkatastrophe, die das Land je erlebt hat, ihre Macht missbrauchen, lassen sich nicht einfach beiseite wischen“, sagt Nils Muižnieks, Direktor für Europa bei Amnesty International und sagt weiter:

Alle Betroffenen, darunter auch Geflüchtete, haben ein Recht auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für den erlittenen Schaden. Die Behörden müssen unverzüglich strafrechtliche Ermittlungen zu allen Fällen von Folter und anderen Misshandlungen durch Polizei, Gendarmerie und andere Ordnungskräfte einleiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

Nils Muižnieks, Direktor für Europa bei Amnesty International

„Die glaubwürdigen Berichte über Angehörige von Polizei, Gendarmerie und Militär, die Menschen, die sie einer Straftat verdächtigen, brutal verprügeln und willkürlich und ohne rechtliche Grundlage in Haft nehmen, sind ein schockierender Hinweis auf die Praktiken der Strafverfolgungsbehörden in der türkischen Erdbebenregion“, sagt Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch, und sagt weiter: „Ordnungskräfte missbrauchen den wegen der Naturkatastrophe verhängten Ausnahmezustand als Lizenz, um zu foltern, andere Misshandlungen zu begehen und sogar straffrei zu töten.“

Human Rights Watch und Amnesty International fordern die türkischen Behörden auf, alle Berichte aus der Erdbebenregion über Folterungen oder andere Misshandlungen durch Polizei, Gendarmerie und Militär umfassend, unverzüglich und unparteiisch straf- und verwaltungsrechtlich zu untersuchen, unabhängig davon, ob die Betroffenen krimineller Handlungen verdächtigt werden.

Recherchen von Amnesty International und Human Rights Watch

Amnesty International und Human Rights Watch befragten 34 Personen und sichteten, soweit verfügbar, Videomaterial zu 13 Fällen von Gewalt durch Polizei, Gendarmerie – der Polizei in ländlichen Gebieten – oder im Erdbebengebiet stationierte Soldat*innen. Insgesamt waren dabei 34 männliche Personen betroffen.

Unter den befragten Personen befanden sich zwölf Opfer von Folter oder anderen Misshandlungen, zwei Personen, die von Gendarmen mit der Waffe bedroht worden waren, und Anwält*innen.
Bis auf drei hatten alle Fälle von Folter und anderen Misshandlungen in der Stadt Anakya in der Provinz Hatay stattgefunden. In vier Fällen handelte es sich bei den Betroffenen um syrische Geflüchtete, und die Angriffe deuteten auf rassistische Motive hin.

Alle Vorfälle ereigneten sich in den zehn Provinzen, in denen der von Präsident Recep Tayyip Erdogan am 7. Februar angekündigte und zwei Tage darauf vom Parlament verabschiedete Ausnahmezustand verhängt worden war. Der Ausnahmezustand im Falle einer Naturkatastrophe gewährt der Regierung Befugnisse wie den Erlass von Dekreten, in denen die Verwendung privater und öffentlicher Ressourcen – Land, Gebäude, Fahrzeuge, Treibstoff, medizinische Güter und Lebensmittel – für die Rettungs- und Hilfsmaßnahmen angeordnet werden kann. Zudem ermöglicht der Ausnahmezustand den Einsatz des Militärs bei Hilfsmaßnahmen und die Regelung der Geschäftsöffnungszeiten in der betroffenen Region. Außerdem kann der Zugang zu der betroffenen Region beschränkt werden.

Auch wenn nach dem Erdbeben von Diebstählen und Plünderungen von Häusern und Geschäften berichtet wurde und die Strafverfolgungsbehörden bei der Wahrung der Sicherheit vor eine enorme Herausforderung gestellt wurden, verbieten das Völkerrecht und das türkische Recht unter allen Umständen Folter oder andere Misshandlungen von Verdächtigen. Die türkische Regierung erklärt seit langem, eine „Nulltoleranz-Politik gegenüber Folter“ zu verfolgen.

Am 17. März informierten Amnesty International und Human Rights Watch den Innen- und den Justizminister der Türkei in einem Schreiben über die Ergebnisse ihrer Recherchen und forderten Informationen zu den Ermittlungen hinsichtlich der Vorwürfe über Verstöße und der in den Sozialen Medien kursierenden Videobeweise. Am 29. März antwortete die Abteilung für Menschenrechte des Justizministeriums im Namen des Justizministeriums und des Innenministeriums. Die Ministerien beteuerten, dass die türkische Regierung Folter nicht dulde, und erklärten, bei den von Amnesty International und Human Rights Watch weitergegebenen Rechercheergebnissen handele es sich um „vage Behauptungen, die jeglicher sachlichen Grundlage entbehren“. Eine Stellungnahme zu den Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisationen oder zu den Anfragen zu konkreten Fällen oder zum Vorgehen der Polizei in der Erdbebenregion während des Ausnahmezustands blieb aus.

Die meisten Betroffenen berichteten, von Gruppen von Polizist*innen, Gendarmen oder Soldat*innen aufgegriffen worden zu sein, als sie bei den Such- und Rettungsmaßnahmen an den vom Erdbeben zerstörten Gebäuden halfen oder in einem der Stadtviertel Antakyas unterwegs waren. In den meisten Fällen wurden die betroffenen Personen nicht in offiziellen Gewahrsam genommen, sondern unmittelbar geschlagen oder gezwungen, sich hinzulegen oder hinzuknien, um dann, manchmal in Handschellen, getreten, geohrfeigt oder längere Zeit beschimpft zu werden. Einige von ihnen wurden gezwungen, Straftaten zu „gestehen“. Allerdings wurden anschließend nur in zwei Fällen wegen mutmaßlicher Straftaten Ermittlungen gegen die Betroffenen eingeleitet, was ernsthafte Zweifel daran aufkommen lässt, ob jemals ein tatsächlicher Verdacht gegen sie bestand.