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© Lauren Murphy Amnesty International USA

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Schwangerschaftsabbruch in den USA: Neuer Amnesty-Bericht zeigt Folgen für Betroffene nach Ende von Roe v. Wade

5. August 2024

Seit das Grundsatzurteil Roe gegen Wade im Jahr 2022 mit dem Dobbs-Urteil gekippt wurde, gibt es in den USA keinen bundesweiten Schutz des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch mehr. Millionen Menschen haben nun keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Abbrüchen. Die US-Regierung verstößt damit gegen ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen. Ein neuer Amnesty-Bericht zeigt die gravierenden Folgen der restriktiven Gesetze für die Betroffenen.

Der neue englischsprachige Amnesty-Bericht Abortion in America: The U.S. Human Rights Crisis in the Aftermath of Dobbs dokumentiert Einzelschicksale aus dem ganzen Land und illustriert, wie Menschen in verschiedenen US-Bundesstaaten unter restriktiven Gesetzen und Praktiken leiden. Der Bericht zeigt eindrücklich, welche schlimmen Folgen die Verweigerung des Zugangs zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch hat.

Stigma und falsche Informationen für Betroffene

Zusätzlich zu Verboten und -beschränkungen von Schwangerschaftsabbrüchen in 21 US-Bundesstaaten wird die Lage für die Menschenrechte noch dadurch verschlimmert, dass die medizinische Notversorgung oft schwer zugänglich ist und es Bemühungen gibt, Schwangerschaftsabbrüche zu kriminalisieren, was sowohl Schwangere als auch Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens betrifft. Ein weiteres Problem sind laut Amnesty-Bericht die Verbreitung falscher Informationen und die Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, ebenso wie die Bereitstellung völlig unangemessener Unterstützung durch sogenannte „Krisenschwangerschaftszentren“, die oft von Gegner*innen von Schwangerschaftsabbrüchen betrieben werden.

„Diese Hürden und Verbote führen zu einer Situation, in der der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch von dem Wohnort und den Mitteln der jeweiligen Person abhängt,“, kritisiert Jasmeet Sidhu, Expertin bei Amnesty International USA, und sagt weiter:

Der Zugang zu reproduktiven Gesundheitsleistungen und Schwangerschaftsabbrüchen darf nicht davon abhängen, in welchem US-Bundesstaat man lebt oder ob man die Möglichkeit hat, in einen anderen Staat zu reisen oder nicht. Die derzeitige Situation führt dazu, dass manche Menschen keinen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen haben – und das steht im Widerspruch zu den Menschenrechten.

Jasmeet Sidhu, Expertin bei Amnesty International USA

Dr. Amna Dermish ist eine texanische Frauenärztin und Geburtshelferin, die auf komplexe Familienplanung spezialisiert ist. Im Bericht sagte sie: „Über eine lange Zeit hinweg hatte ich die Einstellung, dass an jedem Tag, an dem ich in die Klinik kommen und Patient*innen beraten konnte, etwas gewonnen war. Und dann kam das Dobbs-Urteil und machte all das zunichte. Ich kann es immer noch nicht fassen. Es war furchtbar. Ich hatte jeden Tag Panikattacken. Kein*e Gesundheitsdienstleister*in sollte sich jemals in einer solchen Situation wiederfinden müssen. Und was noch wichtiger ist: Kein*e Patient*in sollte jemals in der Situation sein, dass ein*e Gesundheitsdienstleister*in zwar in der Lage ist, eine Leistung zu erbringen, aber von der Regierung daran gehindert wird.“

Skandalöse Diskriminierung

Anhand von ausführlichen Interviews mit Schwangeren, Familien, Aktivist*innen, Gesundheitsexpert*innen und Gesundheitspersonal in US-Bundesstaaten mit Verboten von Schwangerschaftsabbrüchen beleuchtet der Bericht von Amnesty International die Konsequenzen für und Diskriminierung von Menschen in den verschiedensten Landesteilen. Diese erschütternden Einzelschicksale machen deutlich, dass alle Schwangerschaften unterschiedlich sind und dass jede schwangere Person das Recht haben muss, ohne staatliche Einmischung frei über einen möglichen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden.

Der Bericht dokumentiert Beispiele von Menschen, die Hunderte Kilometer weit gereist sind, um einen Abbruch vornehmen zu lassen, und beleuchtet gleichzeitig auch die Fälle jener, die sich eine solche Reise nicht leisten konnten und deshalb gezwungen waren, die Schwangerschaft gegen ihren Willen auszutragen. Auch kommen Personen zu Wort, die sich gezwungen sahen, ihre Schwangerschaft auszutragen, obwohl sie als Minderjährige vergewaltigt wurden, der Fötus schwere Anomalien aufwies oder Gesundheitsrisiken für die schwangere Person bestanden.

„Es war schlimm, dem Arzt erklären zu müssen, dass [meine Tochter im Teenageralter] vergewaltigt wurde, und dann von ihm hören zu müssen, dass er uns nicht helfen kann“, sagte eine Mutter aus Mississippi, die mehr als sieben Stunden zu einer Klinik in Illinois reisen und 1.595 Dollar für den Schwangerschaftsabbruch ihrer Tochter sowie fast 500 Dollar für ein Hotel bezahlen musste.

Einige Schwangere vermieden es, nach einer Fehlgeburt ärztliche Hilfe zu suchen, weil sie befürchteten, zu Unrecht kriminalisiert zu werden. Andere hatten keinen Zugang zu ärztlicher Behandlung, weil es keine Notversorgung gab oder weil die Gesundheitsleistenden befürchteten, ebenfalls kriminalisiert zu werden, wenn sie die notwendige Versorgung bereitstellten.

Taylor aus Texas sagte, dass sie für ihre Gesundheitsversorgung auf „zufallsbedingte“ Internetrecherche zurückgriff. „Schon die Verwendung von Suchmaschinen machte mich nervös. Der Fall einer Frau aus Texas, die wegen der Einnahme von Abtreibungspillen festgenommen und inhaftiert wurde, war mir noch frisch im Gedächtnis ... Ich hatte Angst, meine Arztpraxis anzurufen, falls sie einer Anzeigepflicht unterliegen sollte“, sagte sie.

Manche dieser Gesetze sind äußerst verwirrend und fast unmöglich zu durchschauen. Die derzeitige Situation stellt einen Angriff auf die Rechte schwangerer Menschen dar, erzeugt Angst und Stigmatisierung, bringt das Gesundheitspersonal in eine untragbare Lage und trägt letztlich dazu bei, dass Schwangere nicht die notwendige Betreuung erhalten. Wir befinden uns in einer beispiellosen Krisensituation.

Jasmeet Sidhu, Amnesty International

Unverhältnismäßige Konsequenzen für ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen

Die Verbote von Schwangerschaftsabbrüchen und andere restriktive Vorschriften in den US-Bundesstaaten wirken sich unverhältnismäßig stark auf die Menschen aus, die sich ohnehin bereits am Rande der Gesellschaft befinden und von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Der Bericht von Amnesty International dokumentiert die Schicksale zahlreicher Schwangerer, die Schwarz sind, indigenen Bevölkerungsgruppen angehören, keine Papiere haben, zur LGBTQIA+ Gemeinschaft zählen, mit Behinderungen leben, in ländlichen Gebieten wohnen oder aus einkommensschwachen Verhältnissen stammen.

„Im Zuge von Dobbs ist die Nachfrage nach [Schwarzen] Geburtsbegleiterinnen definitiv gestiegen, weil sich Schwangere gezwungen sehen, das Kind zur Welt zu bringen“, sagte D'Andra Willia von der NGO Afiya Center. „Die Menschen um uns herum waren in letzter Zeit zahlreichen Traumata ausgesetzt, da COVID nicht nur bedeutet hat, dass von häuslicher Gewalt betroffene Personen mit den Tätern zuhause bleiben mussten, sondern auch zu gesundheitlichen und finanziellen Problemen geführt hat. Noch dazu werden Schwangere nun zum Gebären gezwungen, während viele von ihnen noch mit postpartalen Schwierigkeiten und anderen Problemen zu kämpfen haben. Es ist schwer.“

Eine mit Zwillingen schwangere Latina aus Texas, die in der 12. Woche erfuhr, dass bei einem der Zwillinge eine tödliche Krankheit im Mutterleib diagnostiziert worden war, die das Leben des anderen Zwillings bedrohen könnte, beschrieb, dass sie gezwungen war, in einen anderen Bundesstaat zu reisen, um den lebensfähigen Fötus zu retten. „Es war die traumatischste Erfahrung meines Lebens, und sie wurde durch diese unlogischen und gefährlichen Gesetze unnötig verschlimmert. Diese Verbote werden den Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung noch komplizierter, tabubehafteter und schwieriger machen,“ berichtete sie.

Forderungen von Amnesty International

Der Amnesty-Bericht enthält eine Liste mit nachdrücklichen Empfehlungen für die Regierungen der US-Bundesstaaten und der US-Regierung, so zum Beispiel der bundesweite Schutz des Rechts auf Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch sowie Maßnahmen zur Sicherstellung des gleichberechtigten Zugangs zu medikamentösen Abbrüchen und medizinischer Notversorgung. Er fordert die USA überdies auf, internationale Menschenrechtsverträge zu ratifizieren, die den Zugang schwangerer Personen zu der von ihnen benötigten Versorgung gewährleisten würden.

„Alle Menschen müssen die Freiheit haben, ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung wahrzunehmen und eigene Entscheidungen über ihre reproduktive Gesundheit zu treffen“, sagt Jasmeet Sidhu und sagt weiter: „Während wir längerfristig auf den bundesweiten Schutz des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch hinarbeiten, können die Einwohner*innen mancher US-Bundesstaaten diesen Herbst in Wählerinitiativen dafür stimmen, diese Rechte in ihrem Staat zu erhalten.“