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Am kommenden Sonntag sitzt FIFA-Präsident Gianni Infantino beim Eröffnungsspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 auf seinem Platz, wenn Gastgeber Katar im modernen Al-Bayt-Stadion in Doha auf Ecuador trifft.
Unter den sieben eigens für diesen Zweck errichteten Spielstätten ist dieses Stadion die Krönung eines gewaltigen Bauprojekts, das die katarische Hauptstadt und ihre Umgebung seit der Vergabe der Weltmeisterschaft 2010 durch die FIFA stark umgestaltet hat.
Für geschätzte 200 Milliarden Euro wurde Infrastruktur wie Trainingszentren, Hotels und Autobahnen gebaut, um rund 1,5 Millionen Fans für das wohl größte Sportereignis der Welt zu versammeln.
Generalsekretärin von Amnesty International
Generalsekretärin von Amnesty International
Agnès Callamard, ehemalige UN-Sonderberichterstatterin, ist seit Ende März 2021 die internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
Auch für die Millionen von Arbeitsmigrant*innen, die dieses Projekt verwirklicht haben, war der Preis sehr hoch. Das gilt beispielsweise für den Nepalesen Tul Bahadur Gharti, der im November 2020 im Alter von 34 Jahren im Schlaf starb, nachdem er mehr als zehn Stunden bei Temperaturen von bis zu 39 °C auf einer Baustelle gearbeitet hatte.
Der Brief von Infantino ist ein dreister Versuch, sich vor der Schuld der FIFA an diesen Verstößen und ihrer Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmer*innen zu drücken.
Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
Seine Frau Bipana hat nie eine Erklärung dafür erhalten, was mit ihrem Mann passierte. Laut der von den katarischen Behörden ausgestellten Sterbeurkunde starb Tul Bahadur Gharti, der keine Vorerkrankungen hatte, an “natürlichen Ursachen”.
Hinter der schillernden Fassade, die Katar der Welt ab dem 20. November präsentieren wird, gibt es unzählige Leidensgeschichten wie die ihren. Wiederholt forderten Amnesty International sowie zahlreiche andere Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften Gianni Infantino auf, ein Entschädigungsprogramm für Opfer von Grundrechtsverletzungen wie Gharti und Bipana einzuführen.
Eine wachsende und vielfältige Liste von Befürworter*innen fordert mittlerweile Entschädigung. Dazu gehören die Fußballverbände von England, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und den USA, die WM-Sponsoren Coca Cola, Adidas, Budweiser und McDonalds sowie – über ein virales Video im vergangenen Monat – die australische Nationalmannschaft.
Inmitten des wachsenden Protests ist die wichtigste Stimme von allen auffallend still geblieben: Gianni Infantino. Trotz privater und öffentlicher Zusicherungen seitens der FIFA, dass sie den Vorschlag "in Betracht zieht", ist Infantino dem Thema, abgesehen von ein paar Plattitüden, konsequent ausgewichen. Bis heute hat er auf die Forderung nicht geantwortet. Vor zwei Wochen appellierte er in einem Brief an alle 32 konkurrierenden Nationen, sich "auf den Fußball zu konzentrieren" und wischte Bedenken bezüglich der Menschenrechte beiseite, indem er sie als "ideologische oder politische Kämpfe" abtat.
Der Brief von Infantino ist ein dreister Versuch, sich vor der Schuld der FIFA an diesen Verstößen und ihrer Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmer*innen zu drücken. Die FIFA hat sich in ihren eigenen Richtlinien dazu verpflichtet, Menschenrechtsverletzungen zu beheben, zu denen sie beigetragen hat. Angesichts der gut dokumentierten Geschichte der Arbeitsrechtsverletzungen in Katar wusste die FIFA über die offensichtlichen Risiken für die Arbeitnehmer*innen Bescheid, oder hätte sie kennen müssen, als sie Katar den Zuschlag für das Turnier erteilte. Trotzdem wurden bei der Bewertung der katarischen Bewerbung Menschenrechte mit keinem Wort erwähnt. Ebenso wenig wurden Bedingungen für den Schutz der Arbeitnehmer*innen gestellt. Die FIFA hat seitdem viel zu wenig getan, um diese Risiken anzugehen.
Nicht alle in der FIFA-Hierarchie waren so zurückhaltend. Im Oktober erklärte der stellvertretende Generalsekretär der Organisation, Alasdair Bell, vor dem Europarat fest, dass es "wichtig sei, dafür zu sorgen, dass jeder, der durch seine Arbeit bei der Fußballweltmeisterschaft zu Schade kam, in irgendeiner Weise entschädigt wird". Er fügte hinzu, dass "wir daran interessiert sind, diese Angelegenheit voranzutreiben". Schöne Worte, die zeigen, dass die Unterstützung die höchsten Ebenen der FIFA erreicht – aber ohne den Segen von Infantino bleiben sie leere Worte.
Seit seiner Übernahme der FIFA-Präsidentschaft im Jahr 2016 hat Gianni Infantino einen bemerkenswerten Wandel in der Haltung des Weltfußballverbands gegenüber den Menschenrechten eingeleitet. Seine Amtszeit fiel mit positiven Arbeitsreformen in Katar zusammen, auch wenn noch ein weiter Weg vor ihm liegt. Die Einführung der ersten Menschenrechtsrichtlinie der FIFA im Jahr 2017, die Ankündigung der Nachhaltigkeitsstrategie für die Fußballweltmeisterschaft 2020 in Katar und die Menschenrechtskriterien für die Bewerbung um die Weltmeisterschaft 2026 waren ebenfalls wichtige Meilensteine. Grundlegend für diese Maßnahmen ist die Verantwortung der FIFA, Schäden zu beseitigen, zu denen sie beigetragen hat, und dafür zu sorgen, dass sich diese in Zukunft nicht wiederholen. Die FIFA muss nun ihren Worten Taten folgen lassen. Eine Zusage von Infantino, Entschädigungen zu leisten, wäre ein greifbarer Beweis dafür, dass es der FIFA mit ihrer Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte wirklich ernst ist.
Von Seiten der FIFA und Katars wird häufig behauptet, dass die Ausarbeitung und Umsetzung eines Entschädigungspakets kompliziert sei, wie auch Bell in seinen Aussagen vor dem Europarat betonte. Ja, die Anzahl der betroffenen Personen und das Ausmaß des Missbrauchs machen dies zu einem komplexen Unterfangen, aber dies darf nicht als Entschuldigung für Untätigkeit oder weitere Verzögerungen dienen. Es gibt Lösungen, wenn der Wille vorhanden ist, sie zu finden.
Alles, was wir zum jetzigen Zeitpunkt fordern, ist eine unumstößliche Zusage der FIFA, dass missbrauchte Arbeiter*innen entschädigt werden und, dass Programme zur Verhinderung weiteren Missbrauchs finanziert werden. Dazu sollte auch eine Institution gehören, durch die sich Arbeitnehmer*innen über ihre Rechte informieren, sowie Rechtsbeistand und Beratung in Anspruch nehmen können. All dies kann mit einem Federstrich von Infantino erledigt werden. Die Einzelheiten, die gemeinsam mit den katarischen Behörden, den Gewerkschaften, unabhängigen Expert*innen und den Arbeitsmigrant*innen selbst ausgearbeitet werden sollten, können nach der Weltmeisterschaft festgelegt werden. Geld sollte angesichts der 6 Milliarden US-Dollar, die die FIFA mit dem Turnier einnehmen wird, kein Hindernis darstellen.
Für Menschen wie Bipana wird kein Geldbetrag ihr Leid lindern oder ihre Angehörigen zurückbringen können. Aber eine finanzielle Entschädigung wird den Opfern und ihren Familien sehr dabei helfen, ihr Leben wieder aufzubauen. Wenn Gianni Infantino wirklich möchte, dass sich die Welt während der Weltmeisterschaft auf den Fußball konzentriert, sollte er als Erstes dafür sorgen, dass die Menschen, die die WM ermöglicht haben, die Gerechtigkeit und Entschädigung erhalten, die sie verdienen. Die Uhr tickt.