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Stell dir vor, dein eigenes Kind würde von einem Tag auf den anderen spurlos verschwinden. Eine Vorstellung, die mir schwerfällt. Der heutige „Tag der vermissten Kinder“ erinnert mich jedenfalls an das Schicksal verschwundener Kinder. Und an deren Eltern oder andere Obsorgeberechtigte, die diese Kinder vermissen.
In Österreich werden jedes Jahr mehrere hundert Kinder als vermisst gemeldet. Das sind insbesondere Kinder, die von zu Hause weggelaufen sind oder Opfer einer Entführung wurden. In den meisten Fällen werden diese binnen weniger Tage wieder gefunden. Doch es kommt auch immer wieder vor, dass Kinder über einen längeren Zeitraum nicht mehr auffindbar sind. Dies führt in der Regel zurecht zu großer medialer Aufmerksamkeit und die Polizei leitet umfassende und internationale Fahndungsmaßnahmen ein.
Noch unvorstellbarer für mich: Die größte Gruppe verschwundener Kinder hierzulande scheint niemand zu bemerken. Es sind unbegleitete geflüchtete Kinder. Das Bundesministerium für Inneres (BMI) gab kürzlich bekannt, dass sich im letzten Jahr 11.613 unbegleitete geflüchtete Kinder „dem Asylverfahren entzogen haben“. Mit dieser Formulierung suggeriert das BMI, dass diese Kinder sich bewusst dem Verfahren entzogen haben, wobei dies im Wesentlichen nur bedeutet, dass ihre Asylverfahren aufgrund ihrer Unauffindbarkeit eingestellt wurden.
Jurist und Advocacy & Research Officer bei Amnesty International
Jurist und Advocacy & Research Officer bei Amnesty International
Stephan Handl ist Jurist und Kultur- und Sozialanthropologe und Advocacy & Research Officer bei Amnesty International Österreich. Aufgabenbereiche: Advocacy & Research zum Themenbereich Asyl & Migration.
In Wirklichkeit weiß niemand genau, was mit dem Großteil dieser Kinder geschehen ist.
Zwar gehen öffentliche Stellen davon aus, dass die meisten Kinder in andere EU-Länder weitergereist sind, doch weit weniger als die Hälfte dieser Kinder werden in anderen EU-Mitgliedsstaaten wieder registriert. Aufgrund von Doppelzählungen ist völlig unklar, wie viele dieser verschwundenen Kinder in anderen EU-Staaten tatsächlich wieder auftauchen. Es ist daher zu befürchten, dass viele verschwundene Kinder Opfer von Menschenhandel oder anderen Menschenrechtsverletzungen werden.
Noch besorgniserregender ist, dass bei unbegleiteten geflüchteten Kindern nur dann eine Vermisstenanzeige erstattet wird, wenn diese unter 14 Jahre alt sind. Verschwindet ein über 14-jähriges Kind, so erfolgt lediglich eine schriftliche Meldung an den*die Obsorgeträger*in, der*die dann weitere Schritte veranlassen sollte (siehe Bericht der Kindeswohlkommission vom 13. Juli 2021).
Damit sind wir auch schon beim Kern des Problems: Unbegleitete geflüchtete Kinder, die über 14 Jahre alt sind, haben grundsätzlich keine*n Obsorgeberechtigte*n. Die Kinder- und Jugendhilfe übernimmt die Obsorge für diese Kinder nämlich erst dann, wenn sie von der sogenannten Bundesbetreuung in die Grundversorgung der Bundesländer überstellt werden. Und dies kann mehrere Monate dauern.
Insbesondere in diesen ersten Monaten, in denen diese Kinder in völlig ungeeigneten Bundesbetreuungseinrichtungen wie der Betreuungsstelle Ost in Traiskirchen, ohne Zugang zu kindgerechter Betreuung, Information und Bildung untergebracht sind, verschwindet der Großteil der Kinder.
Das heißt: In den ersten Monaten in Österreich, in welchen die unbegleiteten geflüchteten Kinder nach ihrer häufig traumatischen Fluchterfahrung besonderen Schutz und Unterstützung benötigen, übernimmt niemand die Verantwortung. Niemand kümmert sich um ihre Pflege und Erziehung.
MMag. Stephan Handl, Jurist und Advocacy & Research Officer bei Amnesty International
Und niemand stellt eine Vermisstenanzeige oder veranlasst weitere Schritte, wenn sie nicht mehr auffindbar sind. Diese Kinder sind somit verschwunden, werden aber nicht vermisst.
In den vergangenen Monaten hat sich diese Situation noch verschlimmert. Mittlerweile verschwinden mehr unbegleitete geflüchtete Kinder, als dass Asylanträge von ihnen gestellt werden. Das ist eine menschenrechtliche Bankrotterklärung. Es steigt somit die Gefahr, dass die Kinder Opfer von Gewalt, Ausbeutung, Menschenhandel und anderen Menschenrechtsverletzungen werden.
Und deswegen meine ich: Es ist an der Zeit, etwas an dieser unerträglichen Situation zu ändern. Jedes Kind, unabhängig von seiner Herkunft und seinem Aufenthaltsstatus, hat das Recht auf besonderen Schutz und Unterstützung. Deshalb müssen die Kinder- und Jugendhilfen in den Bundesländern von Anfang an die Verantwortung und Obsorge für unbegleitete geflüchtete Kinder übernehmen. Denn jedes Kind hat ein Recht auf Sicherheit, Fürsorge und die Möglichkeit zur Entwicklung.
An diesem "Tag der vermissten Kinder" – und allen Tagen danach – sollten wir uns daher bewusst machen, dass es Kinder gibt, die in unserer Gesellschaft verschwinden, ohne dass es jemand zu bemerken scheint. Lasst uns sicherstellen, dass sie nicht länger unsichtbar bleiben und dass wir als Gesellschaft keine Kinder im Stich lassen!