Ukraine: Wie Amnesty Kriegsverbrechen aufdeckt
23. März 2022Wie kommt Amnesty gerade an Information aus dem Kriegsgebiet? Warum ist es wichtig, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren? Und wie hilft deine Spende dabei? Derzeit erreichen uns vielfach Fragen zu unserer Arbeit, die wir hier beantworten möchten.
Wie dokumentiert Amnesty derzeit Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine?
Derzeit stützen sich Amnesty-Berichte unter anderem auf verifizierte Videos, Fotos, Sattelitenbilder sowie auf Berichte von Menschen und Organisationen in der Ukraine. Eine zentrale Rolle bei dieser Ferndokumentation von Menschenrechtsverletzungen spielt dabei unser Crisis Evidence Lab.
Wie sieht die Arbeit des Crisis Evidence Lab aus?
Das Evidence Lab ist Teil des Krisenreaktionsprogramms von Amnesty International. Im digitalen Verifizierungsprozess kommen hier Open Source Software und menschliche Expertise zusammen: Expert*innen für die visuelle Auswertung von Fernerkundungdaten, Waffenanalyst*innen, Datenwissenschaftler*innen und Entwickler*innen können so die Geschichten derjenigen erzählen, die direkt von einem Konflikt betroffen sind.
Die Website des Evidence Lab bietet einen digitalen Raum, in dem bewährte Praktiken, neue Techniken, Ressourcen und Leitfäden ausgetauscht werden können. Das hilft den Ermittler*innen, die riesige Menge an Informationen auch effektiv für Menschenrechtsarbeit nutzen zu können, die jeden Tag online geteilt werden.
Das Team des Evidence Lab stellt sicher, dass wir genaue Informationen aus Konfliktgebieten erhalten. Besonders wichtig ist das in einem Gebiet wie der Ukraine, in dem es für viele Researcher*innen zu gefährlich ist, vor Ort Beweise zu sammeln, und in einer Zeit, in der Fehlinformationen und Desinformation weit verbreitet sind.
Seit Beginn der russischen Invasion arbeitet das Evidence Lab daran, audiovisuelles Beweismaterial aus der Ukraine zu sammeln, das Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht dokumentiert. Dazu gehören wahllose Angriffe auf zivile Gebiete, der Einsatz von verbotenen Waffen wie Streumunition oder Angriffe auf zu schützende Orte wie Krankenhäuser und Schulen. So haben wir beispielsweise festgestellt, dass bei einem russischen Luftangriff mit Fliegerbomben Zivilpersonen in der ukrainischen Stadt Tschernihiw getötet wurden, die gerade für Essen anstanden.
Wir erhalten Beweise aus einer Reihe von Quellen, darunter Berichte von Augenzeug*innen in der Ukraine sowie Videos und Fotos, die vor Ort aufgenommen wurden, sogenannte „nutzergenerierte Inhalte“. Wir prüfen dann, ob es sich um das handelt, was es zu sein vorgibt, z. B. wo und wann das Video oder Foto aufgenommen wurde und wer es aufgenommen hat. Dazu gleichen wir es mit Satellitenbildern und anderen öffentlich verfügbaren Informationen wie Wetterberichten und Straßendaten ab. Wir sehen uns zum Beispiel die Landschaft, Bäume, Gebäude und Straßen auf den Bildern an und gleichen sie mit bodennahen Aufnahmen wie Straßenansichten oder Satellitenbildern ab, um den Standort zu überprüfen.
Mit der bei Amnesty vorhandenen Expertise über Waffen können wir überprüfen, welche Waffen eingesetzt wurden, sei es anhand von Bildern der verwendeten Waffen oder anhand der Auswirkungen, die der Einsatz der Waffen verursachte.
In dieser Liste und anhand der Kartendarstellung findest du eine Übersicht über alle bisher dokumentierten Angriffe der russischen Armee, bei denen Zivilist*innen verletzt oder getötet wurden.
Mögliche Kriegsverbrechen, die von Amnesty International untersucht und bisher veröffentlicht wurden
Stand 14. März 2022
- 17. Februar: Beschuss eines Kindergartens in der Stadt Stanytsia Luhanska, wobei drei Zivilist*innen verletzt werden
- 24. Februar: Einschlag einer ballistischen Rakete in ein Krankenhaus in Vuhledar, bei dem vier Zivilist*innen getötet werden
- 24. Februar: Beschuss eines Wohnblocks in Charkiw, wobei ein Mann getötet wird
- 24. Februar: Eine Zivilperson wird in Uman getötet
- 25. Februar: Angriff mit verbotener Streumunition auf eine Vorschule in Ochtyrka, bei dem drei Zivilist*innen, darunter ein Kind, getötet werden
- 25. Februar: Rakete beschädigt Schule Nr. 48 in Mariupol
- 26. Februar: Ein Sprengkörper, höchstwahrscheinlich eine Artilleriegranate, schlug im zweiten Stock eines Kindergartens in Tschernihiw ein
- 28. Februar: Bei einem Angriff mit Streumunition werden vier Zivilist*innen, darunter ein Kind, und drei Personen, die in Charkiw Trinkwasser holten, getötet
- 28. Februar: Bei Angriffen auf die Klochkovskaya-Straße in Charkiw werden Zivilist*innen verletzt, darunter eine Frau, die später stirbt
- 28. Februar: Einschlag von Streumunition auf einem Parkplatz, bei dem mehrere Zivilist*innen in Charkiw verletzt werden
- 3. März: Bei einem Sprengstoffanschlag in Tschernihiw werden Berichten zufolge 47 Menschen getötet
Warum ist diese Arbeit wichtig?
Angesichts von Kriegspropaganda, Desinformation und gefälschten Videos aus dem Krieg ist es von zentraler Bedeutung, dass unabhängige Organisationen wie Amnesty International Bilder und Berichte von Gräueltaten auf ihre Echtheit prüfen und durch Abgleich mit anderen Quellen verifizieren. So können wir verlässliche Aussagen über Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht und Menschenrechtverletzungen treffen.
Die Arbeit des Evidence Lab ist ungemein wichtig, um Beweise für Kriegsverbrechen zu sammeln. Das Team erstellt Dokumentationen, die in Zukunft verwendet werden können, um die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht zur Rechenschaft zu ziehen. Und das Evidence Lab erzählt damit auch die Geschichten der Menschen, die am unmittelbarsten von diesem Konflikt betroffen sind.
Wie geht das Evidence Lab genau vor?
Je nachdem, wonach sie suchen, setzen die Mitarbeiter*innen des Evidence Lab eine ganze Reihe von Überprüfungsmethoden ein. Dazu zählen die folgenden Beispiele:
Chrono-Lokalisierung
Mit Hilfe der Chrono-Lokalisierung lässt sich bestätigen, wo und wann ein Video oder Foto aufgenommen wurde. Dies kann durch einen Abgleich des zu verifizierenden Materials mit Satellitenbildern, bodennahen Aufnahmen und anderen öffentlich zugänglichen Informationen erfolgen. Dabei wird überprüft, ob die auf den fraglichen Aufnahmen abgebildeten Landschaften, Bäume, Gebäude oder Straßen mit denen auf Vergleichsfotos oder aus anderen Bildquellen – wie beispielsweise von Google Street View – übereinstimmen.
Auch Wetterdaten werden daraufhin ausgewertet, ob sie mit den Bedingungen übereinstimmen, die zum Zeitpunkt der angeblichen Aufnahme des untersuchten Fotos oder Videos am fraglichen Ort herrschten.
Fernerkundung
Dabei nutzen die Expert*innen Satellitenbilder und Bilder anderer Darstellungsmethoden wie Radar und LiDAR, um nach Anzeichen von Angriffen wie zerstörten Gebäuden, Kratern, Trümmern, Truppen- oder Waffenbewegungen zu suchen. Die Vogelperspektive ist außerdem wichtig, um die Dynamik von Angriffen verstehen und so auch potenzielle Ziele ermitteln zu können.
Identifizierung von Waffen
Die Waffenexpert*innen von Amnesty International analysieren Fotos, Videos und andere Daten, um zu überprüfen, welche Waffen eingesetzt werden und ob deren Einsatz zu Menschenrechtsverletzungen führt. Dazu gehört beispielsweise die Untersuchung der Form eines von einer Rakete hinterlassenen Kraters, die Auswertung von Filmmaterial eines Luftangriffs oder die Untersuchung von Fotos nach abgebildeten Waffenresten. Außerdem analysieren die Expert*innen auch eventuell abgebildete Handelsdaten der Waffen, wie eingravierte Modell- oder Artikelnummern, um so Rückschlüsse auf deren Herkunft ziehen zu können.
Augenzeug*innen
Das Evidence Lab arbeitet auch mit Expert*innen zusammen, die Interviews mit Augenzeug*innen von Angriffen durchführen. Diese Zeugenaussagen können digitale Belege untermauern.
Archivierung und Dokumentation
Das Evidence Lab katalogisiert und archiviert alle Originalbelege und dokumentiert die angewendeten Überprüfungs- und Analysemethoden, um die Rechenschaftspflicht und weitere juristische Maßgaben zu erfüllen. Wir wollen die Verantwortlichen von Justizbehörden unterstützen und unsere Beweise zur Verfügung stellen, um sicherzustellen, dass Täter*innen auch zur Rechenschaft gezogen werden.
Wie kann ich die Arbeit des Evidence Lab unterstützen?
Mit einer Spende an Amnesty International kannst du die wichtige Dokumenationsarbeit des Teams unterstützen. Mit deiner Spende können wir rasch für gefährdete Menschen aktiv werden und Menschenrechtsverletzungen aufdecken. In der Ukraine und auf der gesamten Welt. Herzlichen Dank.
Amnesty Citizen Evidence Lab
Weitere Informationen über das Amnesty Evidence Lab findest du auf der internationalen Website und in diesem kurzen Video.