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Als Petar Rosandić (Spitzname Pero), alias Kid Pex, für das Geflüchtetenlager Lipa den Begriff „Guantánamo“ verwendete, war ihm die Aufmerksamkeit der österreichischen Öffentlichkeit – und des in Wien ansässigen International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) sicher. Das ICMPD klagte Rosandić wegen der Verwendung dieses Begriffs – und verlor. Die Klage wurde mit dem Hinweis auf die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Meinungsäußerungsfreiheit abgewiesen.
Pero ist ein Tausendsassa. Wiener, Kroate, Musiker, Journalist und seit einigen Jahren hauptberuflich Menschenrechtsaktivist und Gründer der Nichtregierungsorganisation „SOS Balkanroute“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in Bosnien und Herzegowina, auf der berüchtigten „Balkanroute“, humanitäre Hilfe zu leisten und auf die Situation von Geflüchteten und Migrant*innen in dem kleinen Land aufmerksam zu machen.
Shoura Zehetner-Hashemi ist Menschenrechtsaktivistin und Iran-Expertin. Nach langjähriger Arbeit im diplomatischen Dienst des Außenministeriums übernahm sie 2023 die Leitung der österreichischen Sektion von Amnesty International.
Wir als Amnesty International Österreich haben damals eine Prozessbeobachtung durchgeführt und geholfen, die Einschüchterungsklage von ICMPD auch in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Es war deswegen eine sehr einfache Entscheidung, als Pero mich gefragt hat, ob wir von Amnesty International Österreich ihn zum Lager Lipa begleiten wollen, um uns ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Nicht nur, weil ich die Arbeit von SOS Balkanroute unterstützenswert finde, sondern auch, weil ich wissen wollte, wie dieses berüchtigte Camp Lipa, das ich bis dato nur aus Medienberichten kannte, tatsächlich aussieht, woher die Menschen kommen, die dort untergebracht sind und ob es tatsächlich eine von Österreich maßgeblich mitfinanzierte Hafteinrichtung ohne Rechtsgrundlage gibt.
Ende Mai war es dann soweit. Gemeinsam mit dem Völkerrechtsexperten Ralph Janik und dem bekannten Aktivisten Daniel Landau, sind wir für drei Tage nach Bihać gereist. Bihać ist eine 40.000-Einwohner-Kleinstadt im Nordwesten Bosniens, nahe der kroatischen Grenze und direkt am Fluss Una gelegen.
Seit einigen Jahren ist Bihać eine jener Städte in Bosnien und Herzegowina, die von Geflüchteten und Migrant*innen als Transitzone auf dem Weg in die Europäische Union genutzt wird.
Direkt nach unserer Ankunft in der Stadt haben wir zunächst die von SOS Balkanroute aufgebaute und mittlerweile von der österreichischen Diakonie betriebene Gemeinschaftsküche besucht. Aus dieser Küche, die von österreichischen Spendengeldern finanziert wurde, hat man 2019 eine Zeitlang das Lager Lipa mit Essen beliefert. Mittlerweile hat Lipa selbst eine Kantine und die Gemeinschaftsküche steht sozial benachteiligten Familien aus Bihać zur Verfügung. Wir hatten dort gleich die Gelegenheit, Gespräche zu führen mit Menschen, die seit Monaten in der Stadt sind und immer wieder beim Versuch, über die kroatische Grenze in die EU zu gelangen, abgewiesen wurden. Die Herkunftsländer der Personen waren sehr unterschiedlich: Syrien, Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten. Ihre Geschichten waren allerdings ähnlich. Alle waren auf der Suche nach einem Leben mit Perspektiven, auf der Suche nach Arbeit, von der man leben kann, auf der Suche nach bürgerlichen Freiheiten.
Wir haben alle, die dazu bereit waren, nach ihren Erfahrungen mit Pushbacks an der kroatischen Grenze befragt. Zwei junge Marokkaner, beide eindeutig minderjährig, haben uns Fotos und Videos gezeigt von ihren eigenen Verletzungen und jenen ihrer Begleiter.
Es war immer wieder die Rede von Gewalt, von Faustschlägen, von Hundebissen, von zertrümmerten Smartphones und weggenommenen Schuhen, die den Rückweg nach Bihać bzw. ins Camp Lipa erschweren sollten.
Shoura Zehetner-Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Am zweiten Tag unseres Aufenthalts in Bihać konnten wir das Geflüchtetenlager Lipa, etwa 25km außerhalb der Stadt besuchen. Wir hatten im Vorfeld um eine Genehmigung angesucht und wurden bei dem Besuch vom bosnischen Menschenrechtsminister Sevlid Hurtic begleitet, ein ausgesprochener Kritiker des Lagers.
Lipa ist nur über eine Art Wanderweg, eine Straße voller Schlaglöcher und ohne jegliche Beschilderung zu erreichen. Das Lager liegt auf einem Hügel, umgeben von einem mit Minenwarnschildern versehenen Wald. Nach dem Jugoslawienkrieg 1992-1995 fanden in der Region zwar Entminungsarbeiten statt, jedoch nicht weitflächig genug.
Zum Zeitpunkt unseres Besuchs befanden sich im Lager 253 Personen. Die Lagerkapazität beträgt 1500 Personen. Die Situation vor Ort war, angesichts der geringen Belegung, relativ entspannt. Die Menschen in Lipa sind in Blechcontainern mit Stockbetten untergebracht, das Areal ist umzäunt, es gibt einen Speisesaal und Sanitäreinrichtungen. Mehrfach wurde uns gegenüber betont, dass das Lager offen sei und niemand eingesperrt werde. Die von Österreich mitfinanzierte und ohne Baugenehmigung errichtete Hafteinheit am Rande des Lagers (Kosten in Höhe von EUR 500.000,-) sei aus menschenrechtlichen Erwägungen nie in Betrieb genommen worden, erklärte uns der bosnische Menschenrechtsminister. „Und so lange ich Minister bin, wird diese Hafteinrichtung auch nicht als solche genutzt werden“, meinte er.
Auch in Lipa haben wir viele Gespräche geführt. Mit einem jungen Ägypter, der in Kairo mehrere Monate inhaftiert war, mit einem Palästinenser aus Gaza, mit Algerier*innen, die schon viele erniedrigende Pushbacks hinter sich hatten.
Auch diese Gespräche hatten eine Gemeinsamkeit: Die Suche nach einer Lebensperspektive.
Shoura Zehetner-Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Begehrt waren aber auch die Sachspenden, die wir zum Teil aus Österreich mitgenommen hatten: Schuhe, Kleidung, Socken. Und natürlich Lebensmittel, um die eher kargen Mahlzeiten in Lipa ein wenig aufzubessern.
Auf die Frage, was sie als nächstes tun wollen, war die Antwort der Männer und Frauen immer dieselbe: Den nächsten Versuch wagen. Die nächste Chance ergreifen, eben jene Lebensperspektive zu finden, frei von Verfolgung, Hoffnungslosigkeit. Als Zielländer wurden uns vorwiegend Italien und Spanien genannt, ab und zu Deutschland, niemals Österreich. Außerhalb von Wien gibt es hierzulande keine großen Communities mit Strukturen, die einen auffangen können. Italien und Spanien bieten sich da besser an.
Alle, mit denen wir geredet haben, waren motiviert, wollten arbeiten, hatten sich immerhin bis nach Bosnien und Herzegowina durchgekämpft und anstrengende Situationen gemeistert. Warum ihnen nicht eine Chance geben, sie ausbilden in den Bereichen, die unter akutem Personalmangel leiden und keine akademisch gebildeten Fachkräfte benötigen? Warum sollten die Menschen, die wir getroffen haben, nicht auch eine Perspektive erhalten – und gleichzeitig eine Perspektive für eine alternde und sich demografisch verändernde Europäische Union bieten können? Diese Frage habe ich mir in den drei Tagen in Bihać oft gestellt. Für die Europäische Union wird der Umgang mit dem Thema Asyl und Migration in den kommenden Jahren wohl die Schlüsselfrage werden.
Ich habe Bihać mit vielen Eindrücken zurückgelassen. Der prägendste und positivste war, zu sehen wie Menschenrechtsarbeit und Aktivismus in der Praxis wirken kann. Dass die Hafteinrichtung im Lager Lipa nie in Betrieb genommen und der unrechtmäßige Bau überhaupt erst öffentlich gemacht wurde, haben wir Petar Rosandić und der SOS Balkanroute zu verdanken. Er war es, der unermüdlich auf dieses Thema aufmerksam gemacht und gleichzeitig dringend notwendige humanitäre Hilfe geleistet hat.
Ein Einzelner kann sehr viel bewirken, auch wenn das nicht immer auf den ersten Blick offensichtlich ist. Engagement wirkt, und davon konnte ich mich in Lipa überzeugen.