Marokko: Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen hat verheerende Auswirkungen auf Rechte von Frauen und Mädchen
14. Mai 2024Triggerwarnung
Der Text beschreibt physische Gewalt, sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung und Suizidgedanken.
Der marokkanische Staat kommt seinen Verpflichtungen nicht nach, zugängliche, erschwingliche und qualitativ hochwertige Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, einschließlich Schwangerschaftsabbrüchen, zu gewährleisten. Dadurch werden Frauen und Mädchen in gefährliche Situationen gezwungen und ihre Menschenrechte werden verletzt, so Amnesty International heute.
Ein neuer Bericht mit dem Titel My life is ruined: The need to decriminalize abortion in Morocco dokumentiert, wie die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Marokko, selbst in Fällen, in denen die Schwangerschaft auf eine Vergewaltigung zurückzuführen ist, verheerende Folgen für Frauen und Mädchen hat. Unter Androhung von Gefängnisstrafen sind viele gezwungen, heimlich gefährliche Methoden zum Schwangerschaftsabbruch anzuwenden. Diejenigen, die keinen Erfolg haben, werden gezwungen, die Schwangerschaft auszutragen. Dabei laufen zusätzlich Gefahr, aufgrund von Gesetzen, die sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe unter Strafe stellen, strafrechtlich verfolgt zu werden, was soziale Ausgrenzung und Armut noch verschärft, während sie gleichzeitig die schmerzhaften Folgen gescheiterter Schwangerschaftsabbruch-Versuche ertragen müssen.
Dieser Bericht enthält Interviews mit 33 Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführten oder durchführen wollten, sowie weitere Interviews mit marokkanischen NGOs, die sich für die Rechte von Frauen einsetzen, und mit Jurist*innen und Mediziner*innen. Obwohl im März und November 2023 sowie im Jänner 2024 marokkanischen Behörden die Ergebnisse des Berichts vorgestellt und um eine Stellungnahme zur Aufnahme in den Bericht gebeten wurde, lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch keine Antworten vor. Der Bericht wird zusammen mit einer Kampagne veröffentlicht, die die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Marokko fordert.
„Kein Staat sollte Schwangerschaftsentscheidungen diktieren und Frauen und Mädchen grundlegende sexuelle und reproduktive Gesundheitsdienste, einschließlich Schwangerschaftsabbrüche, verweigern, auf die sie nach internationalem Recht Anspruch haben“, sagte Amjad Yamin, stellvertretender Regionaldirektor von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.
Marokkos diskriminierende Gesetze, Politik und Praktiken verweigern Frauen ihr Recht auf autonome Entscheidungen und halten ein soziales Klima aufrecht, das Frauen und Mädchen dazu zwingt, ihre Schwangerschaft ungeachtet der Konsequenzen fortzusetzen, und das Gewalt, Armut und systemische Geschlechterdiskriminierung fördert.
Amjad Yamin, stellvertretender Regionaldirektor von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika
„Marokkanische Organisationen fordern die marokkanischen Behörden seit Jahren auf, Schwangerschaftsabbrüche zu entkriminalisieren und dafür zu sorgen, dass niemand misshandelt, gedemütigt oder erniedrigt wird oder Gefahr läuft, strafrechtlich sanktioniert oder sozial ausgegrenzt zu werden, weil sie*er einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen will oder kann. Der vorliegende Bericht und die Kampagne bauen auf diesen Bemühungen auf und bekräftigen, dass nach internationalem Recht jede*r, die*der einen Schwangerschaftsabbruch benötigt, diesen unter Wahrung der eigenen Privatsphäre, der Vertraulichkeit und mit Einverständniserklärung vornehmen lassen können sollte. Bezahlbare und zugängliche, umfassende Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit für alle, insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen oder die in Armut leben, müssen über das öffentliche Gesundheitssystem bereitgestellt werden.“
„Wir können den Frauen nicht helfen. Uns sind die Hände gebunden.“
Das marokkanische Strafgesetzbuch verbietet Schwangerschaftsabbrüche, es sei denn, sie werden von einer*einem zugelassenen Ärzt*in oder Chirurg*in durchgeführt und gelten als notwendig, um die Gesundheit oder das Leben der schwangeren Person zu schützen. Wer einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt oder versucht, kann mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren sowie mit Geldstrafen und zusätzlichen Gefängnisstrafen aufgrund von Bestimmungen, die sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe unter Strafe stellen, belegt werden.
Gesetze, die die Verbreitung von Informationen über Schwangerschaftsabbrüche verbieten, schränken den Zugang zu wichtigen Gesundheitsressourcen weiter ein und verwehren Schwangeren die Möglichkeit, fundierte Entscheidungen über ihre Schwangerschaft zu treffen. Die „Anstiftung zum Schwangerschaftsabbruch“ in jeglicher Form, auch durch öffentliche Äußerungen oder die Verteilung entsprechender Materialien, wird mit bis zu zwei Jahren Gefängnis und/oder Geldstrafen geahndet.
Mediziner*innen, die Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des Gesetzes durchführen, riskieren den Verlust ihrer Zulassung. Wenn sie vorgeladen werden, müssen sie außerdem aussagen und Informationen über Schwangerschaftsabbrüche preisgeben, von denen sie Kenntnis haben, was die Vertraulichkeit der Patient*innen gefährdet.
Diese Beschränkungen, die durch das Fehlen medizinischer Leitlinien oder Protokolle für die Durchführung legaler Schwangerschaftsabbrüche noch verschärft werden, lassen viele Schwangere ohne einen legalen und sicheren Weg zum Schwangerschaftsabbruch zurück.
Was können wir als Ärztinnen*Ärzte tun? Nichts. Wir können den Frauen nicht helfen. Uns sind die Hände gebunden. Wir sind frustriert, weil wir den Frauen nicht die Hilfe geben können, die sie wollen.
Marokkanischer Arzt
Kräuter, Chemikalien und körperliche Gewalt: Unsicher und unwirksam
Schwangeren bleibt meist nichts anderes übrig, als ungeregelte, unsichere und oft teure Schwangerschaftsabbrüche im Geheimen vorzunehmen. Die befragten Frauen berichteten, dass sie auf eine Reihe gefährlicher Schwangerschaftsabbruchmethoden zurückgriffen, darunter den Missbrauch von Arzneimitteln, die Einnahme gefährlicher chemischer Mischungen und sogar körperliche Gewalt, die sie sich selbst oder anderen zufügten. Einige Frauen versuchten sogar, ihr eigenes Leben zu beenden. Vier von Amnesty International befragte Frauen mussten wegen schwerer gesundheitlicher Komplikationen, die auf unsichere Schwangerschaftsabbrüche zurückzuführen waren, im Krankenhaus behandelt werden.
Farah, deren richtiger Name zum Schutz ihrer Identität nicht genannt wird, wurde von einem männlichen Kollegen vergewaltigt, als sie infolge eines Diabetesanfalls bewusstlos war. Zwei Monate später stellte sie fest, dass sie schwanger war und suchte Hilfe bei einem Gynäkologen, der sich weigerte, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Ihr Chef suspendierte sie, um zu verhindern, dass der Ruf seines Unternehmens geschädigt würde, falls sie wegen außerehelicher sexueller Beziehungen strafrechtlich belangt werden sollte.
Farah versuchte, ihre Schwangerschaft selbst abzubrechen, war aber schließlich gezwungen, die Schwangerschaft zu Ende zu führen, obwohl sie Verletzungen und eine Infektion erlitt. Sie erzählte Amnesty International:
„Ich habe alle möglichen Kräuter und alles andere, was man trinken kann, genommen, um die Schwangerschaft abzubrechen. Ich kaufte Kräuter von einem Kräuterspezialisten, trank sie und hatte unerträgliche Schmerzen und musste mich übergeben. Ich hatte das Gefühl, dass meine Eingeweide zerrissen werden, aber ich habe die Schwangerschaft nicht abgebrochen. Einmal ging ich in mein Zimmer, zog mich aus und führte einen langen Stock in meine Vagina ein und drehte ihn in alle Richtungen, aber alles, was ich bekam, war eine große Wunde und unerträgliche Schmerzen.... Mehr als fünf Monate lang habe ich alles versucht, aber ohne Erfolg. Ich dachte sogar an Selbstmord.“
Ich hatte das Gefühl, dass meine Eingeweide zerrissen werden, aber ich habe die Schwangerschaft nicht abgebrochen. (…) Alles, was ich bekam, war eine große Wunde und unerträgliche Schmerzen.... Mehr als fünf Monate lang habe ich alles versucht, aber ohne Erfolg. Ich dachte sogar an Selbstmord.
Farah versuchte selbst den Schwangerschaftsabbruch
Die unzureichende Reaktion Marokkos auf Gewalt gegen Frauen fördert eine Kultur der Straflosigkeit, die es Tätern von Vergewaltigung, Gewalt in der Partnerschaft und sexueller Belästigung ermöglicht, frei zu agieren. Zehn Frauen berichteten Amnesty International, dass sie aufgrund von Vergewaltigungen durch Fremde, Nachbarn, Freunde oder Ehemänner schwanger wurden. Der Zugang der Vergewaltigungsopfer zu Rechtsmitteln wird durch harte Strafen im Strafgesetzbuch für sexuelle Beziehungen zwischen Unverheirateten untergraben.
Die Kriminalisierung und Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Marokko hat auch Auswirkungen auf Personen, die ungewollt schwanger werden, weil sie nicht verhüten können, keinen Zugang zu Verhütungsmitteln haben oder wirtschaftlich benachteiligt sind.
„Schwangere in Marokko müssen ihre sexuellen und reproduktiven Rechte wahrnehmen können, indem sie Zugang zu umfassenden Informationen und Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit erhalten, einschließlich moderner Verhütungsmittel und sicherer Schwangerschaftsabbrüche“, sagte Saida Kouzzi, Gründungspartnerin von Mobilising for Rights Associates, den Kampagnenpartnern von Amnesty International.
Grausamkeit und Diskriminierung von unverheirateten Frauen
Nach dem marokkanischen Strafgesetzbuch werden sexuelle Beziehungen zwischen Unverheirateten mit einem Monat bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, während auf Ehebruch eine Strafe von ein bis zwei Jahren steht. Dies führt nicht nur zu sozialer Ausgrenzung, sondern verschärft auch die wirtschaftliche Ausgrenzung von Frauen, die gezwungen sind, ihre Schwangerschaften auszutragen. Frauen, die wegen solcher Straftaten inhaftiert und vorbestraft sind, sehen sich bei der Arbeitssuche mit zusätzlichen Hindernissen und Stigmatisierungen konfrontiert und sind häufig sozial isoliert.
Ouiam, deren richtiger Name zum Schutz ihrer Identität nicht genannt wird, ist eine Witwe und Mutter eines Kindes, die wegen außerehelichem Sex inhaftiert wurde. Sie hat auch erfolglos versucht, selbst einen Schwangerschaftsabbruch herbeizuführen. Sie sagte:
Als unverheiratete Mutter lebe ich in meinem Dorf in Angst und Schrecken, niemand spricht mit mir... Die Menschen im Dorf behandeln mich schlimmer als je zuvor.
Ouiam hat erfolglos versucht, selbst einen Schwangerschaftsabbruch herbeizuführen
Mehrere der befragten Frauen beschrieben, dass sie während des Schwangerschaftsabbruchs verbal, körperlich oder sexuell missbraucht wurden. Den Kindern unverheirateter Frauen, die gezwungen sind, ihre Schwangerschaft auszutragen, wird aufgrund von Gesetzen, die nur die väterliche Abstammung innerhalb legaler Ehen anerkennen, die rechtliche Identität verweigert. Das Familiengesetzbuch verweigert diesen Kindern das Recht, den Namen ihres biologischen Vaters zu tragen oder finanzielle Unterstützung oder ein Erbe zu erhalten, wodurch Armut und Diskriminierung gefördert werden. Darüber hinaus garantiert das Zivilstandsgesetzbuch unverheirateten Frauen nicht das Recht auf ein Familienbuch, das für die Eintragung der Geburt und den Erhalt offizieller Dokumente unerlässlich ist, um Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung, Rechtshilfe und Sozialleistungen zu erhalten.
„Die mutigen Frauen, die in diesem Bericht ihre herzzerreißenden Geschichten erzählen, inspirieren und fordern zum Handeln auf. Es ist höchste Zeit, dass die marokkanischen Behörden den sexuellen und reproduktiven Rechten der Schwangeren Vorrang einräumen und das Schweigen und die Untätigkeit des Staates in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche durchbrechen. Sie müssen dringend Gesetze zum Schutz reproduktiver Rechte und Autonomie verabschieden, Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisieren und den gleichberechtigten Zugang zu umfassender Gesundheitsversorgung, einschließlich sicherer Schwangerschaftsabbrüche, für alle Frauen und Mädchen und alle Menschen, die schwanger werden können, sicherstellen", sagte Stephanie Willman Bordat, Gründungspartnerin von Mobilising for Rights Associates (MRA), dem Kampagnenpartner von Amnesty International.