Keine Flüchtlingskrise, aber eine unnötige Unterbringungskrise: Offener Brief an die Bundesregierung
19. Oktober 2022Seit dieser Woche müssen in Österreich Geflüchtete teilweise wieder in Zelten leben, obwohl diese menschenunwürdige Unterbringung absolut vermeidbar ist. Denn wie die Daten zeigen, handelt es sich aktuell um keine Flüchtlingskrise, wie oft fälschlicherweise dargestellt wird, sondern schlicht um eine unnötige Unterbringungskrise, die auf dem Rücken von Schutzsuchenden ausgetragen wird.
Daher wenden sich Amnesty International, asylkoordination, Caritas, Diakonie, Doro Blancke, I-Haus, ÖRK, Samariterbund, SOS Kinderdorf, SOS Mitmensch, tralalobe, und Volkshilfe mit einem Appell für Unterbringungsgipfel an die Bundesregierung.
Offener Brief zur Unterbringungskrise von schutzsuchenden Menschen an die zuständigen Mitglieder der Bundesregierung
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Nehammer,
sehr geehrter Herr Vizekanzler Kogler,
sehr geehrter Herr Innenminister Karner,
sehr geehrter Herr Finanzminister Brunner,
sehr geehrte Frau Integrationsministerin Raab,
seit dieser Woche müssen Geflüchtete in Österreich teilweise wieder in Zelten hausen. Niemand will das und diese menschenunwürdige Unterbringung ist auch absolut vermeidbar. Die Zahl der Asyl-werber*innen, die sich in Österreich in Grundversorgung befindet, ist – da viele Antragsteller*innen Österreich binnen weniger Tage Richtung anderer Zielländer verlassen – auch weiterhin relativ stabil. Allerdings kam es im Laufe des heurigen Jahres zu einer erheblichen Verschiebung der Unterbringung in Richtung der Grundversorgungs-einrichtungen des Bundes.
Unterbringungskrise, keine Flüchtlingskrise
Wie die Daten zeigen handelt es sich aktuell um keine Flüchtlingskrise, wie oft fälschlicherweise dargestellt wird. Es ist schlicht eine unnötige Unterbringungskrise, die auf dem Rücken von Schutzsuchenden ausgetragen wird. Unnötig deshalb, weil zwischen Bund und Ländern klar und verbindlich vereinbart ist, wie die Verteilung der Schutzsuchenden verlaufen soll. So hat der Bund bis zur Zulassung des Asylverfahrens in Österreich die Menschen unterzubringen und zu versorgen. Ab dann haben sich die Länder verpflichtet, diese Aufgabe entsprechend einer vereinbarten Quote binnen zwei Wochen zu übernehmen. Tatsächlich erfüllen aber nur Burgenland und Wien die vereinbarten Quoten. Trotz mehrfacher Warnungen, auch vonseiten der Hilfsorganisationen, kam es zu einem Flaschenhals und in Folge zu einer absehbaren Überlastung der Grundversorgungsquartiere des Bundes. Es ist höchst an der Zeit, dieses Problem aus der Welt zu schaffen.
Dringender Appell für Unterbringungsgipfel
Wir appellieren daher dringend, dass das Innenministerium ehestmöglich zu einem Unterbringungsgipfel lädt. In diesem Rahmen sollen alle an der Unterbringung und Versorgung beteiligten Akteure (Bundesregierung, Landeshauptleute, Städte- und Gemeindebund, Bundespolizeidirektion, Flüchtlingskoordinator, UNHCR, Asylkoordination und die Hilfs- und Trägerorganisationen gemeinsam konstruktiv über die Herausforderungen diskutieren und zu Lösungen und konkreten Maßnahmen kommen. Sie als politisch Verantwortliche sind gefragt, akute Probleme zu lösen und eine nachhaltige Reform des Grundversorgungssystems umzusetzen. Wir stehen bereit, uns im Rahmen unserer Möglichkeiten einzubringen.
Erste Lösungsansätze liegen am Tisch
Konstruktive Lösungsansätze gibt es bereits: Erst vor wenigen Wochen haben wir als Hilfsorganisationen einen konkreten 7 Punkte Sofortmaßnahmen-Plan zur Bekämpfung der Unterbringungskrise in der Grundversorgung vorgeschlagen. Diese teilweise sehr einfach und schnell umsetzbaren Maßnahmen würden kurzfristig den Druck aus dem Grundversorgungssystem nehmen und auf lange Sicht ein System etablieren, das die Menschenrechte von Geflüchteten schützt. Um neue organisierte Flüchtlingsquartiere zu schaffen, und bestehende weiterführen zu können, braucht es ausreichend Ressourcen und Kostenwahrheit. Es braucht, zumindest temporär, den Einsatz von prioritären Verfahren für Menschen mit hoher Anerkennungswahrscheinlichkeit, um den derzeitigen Flaschenhals in der Unterbringung aufzulösen. Private Quartiergeber*innen benötigen wiederum finanzielle Unterstützung. Die Bevölkerung leistet gerade bei der Unterbringung von geflüchteten Menschen aus der Ukraine Enormes, das sollte die Politik auch entsprechend abgelten. Das ist im Interesse des Staates: Privatpersonen unterstützen den Staat dabei bei Erfüllung seiner ureigenen Aufgaben. Aufnahmebereite Gemeinden leisten in der konkreten Aufnahme Großartiges: Sie benötigen finanzielle und organisatorische Unterstützung. Ein weiterer Baustein zu einer nachhaltigen Lösung ist die Überführung subsidiär Schutzberechtigter und aus der Ukraine Vertriebener ins Sozialhilfesystem. Kinder und Jugendliche sollten gesondert bzw. geeignet untergebracht werden, denn die Erstaufnahmestellen des Bundes sind kein Platz für allein reisende Kinder und Jugendliche.
Gemeinsam immer wiederkehrende Herausforderungen aus der Welt schaffen
Wir stehen in Österreich und in Europa vor großen Herausforderungen: der Ukraine-Krieg ist nicht vorbei, weitere Schutzsuchende aus der Ukraine sind vor allem mit Blick auf den Winter sehr wahrscheinlich. Leider müssen wir auch in Zukunft mit derartigen Herausforderungen rechnen. Dafür braucht es Vorbereitung und Strukturen. Strukturen, die bereits in der Vergangenheit funktioniert haben. Strukturen, auf denen wir aufbauen können. Die Verteilung von aktuell 5.700 geflüchteten Menschen auf die Bundesländer ist für ein Land wie Österreich leicht zu lösen. Wir sind bereit, diese Lösungen auch mit umzusetzen.
Die unterzeichnenden Organisationen: Amnesty International, asylkoordination, Caritas, Diakonie, Doro Blancke, I-Haus, ÖRK, Samariterbund, SOS Kinderdorf, SOS Mitmensch, tralalobe, Volkshilfe
Titelbild: Neu errichtete Zelte zur Unterbringung von Geflüchteten, Erstaufnahmezentrum Thalham St. Georgen im Attergau, 15. Oktober 2022