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Als würdest du zum Feind gehen: Hürden beim Zugang zur Sozialhilfe in Österreich

20. Februar 2024

Bericht von Amnesty International zeigt menschenrechtswidrige Hürden im Zugang zur Sozialhilfe

  • Löchriges System: Sozialhilfe ist in Österreich nicht für alle Menschen zugänglich
  • Politik und gesellschaftliche Narrative führen zu Beschämung und dazu, dass Menschen ihre Ansprüche nicht wahrnehmen
  • Anspruchsvoraussetzungen und Mitwirkungspflichten stellen besonders für vulnerable Gruppen teils immense Hürden dar
  • Vor der Nationalratswahl: Alle Parteien müssen Armut als menschenrechtliches Problem anerkennen und sich zu einer Neugestaltung der Sozialhilfe bekennen

Am heutigen Welttag der sozialen Gerechtigkeit präsentiert Amnesty International den zweiten Bericht zum Thema Armut und Sozialhilfe in Österreich. Aufbauend auf einer ersten menschenrechtlichen Analyse vom Herbst des Vorjahres, in der das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz als menschenrechtswidrig erklärt wurde, hat sich die Organisation nun ein Kernelement des Rechts auf soziale Sicherheit angesehen, nämlich die Zugänglichkeit zur Sozialhilfe. Fazit: Rechtliche, praktische, aber auch gesellschaftliche Hürden pflastern den Weg von Armutsbetroffenen und verhindern regelmäßig, dass sie Sozialhilfe auch tatsächlich in Anspruch nehmen können. Der Bericht zeigt: Vor allem Frauen, insbesondere mit Betreuungspflichten, und Menschen mit Behinderungen sind überproportional häufig von diesen Hürden betroffen.

Die Sozialhilfe ist löchrig – diverse Hürden verhindern die Inanspruchnahme

Ronya Alev, Researcherin bei Amnesty International und Verfasserin des Berichts, wiederholt anlässlich der Präsentation ihre Kritik, dass das Recht auf soziale Sicherheit, zu dem sich Österreich völkerrechtlich verpflichtet hat, nicht ausreichend umgesetzt ist.

Wir haben einen gut ausgebauten Sozialstaat. Aber das letzte soziale Auffangnetz, die Sozialhilfe, ist löchrig und schließt manche Menschen aus. Das trifft besonders jene, die ohnehin zu vulnerablen Gruppen gehören.

Ronya Alev, Researcherin bei Amnesty International Österreich

Abseits davon können die bereits erwähnten Hürden, die sich den Menschen etwa aufgrund von Mitwirkungspflichten stellen, dazu führen, dass sie Sozialhilfe nicht oder nicht in vollem Umfang erhalten oder sogar darauf verzichten, diese überhaupt zu beantragen – obwohl sie eigentlich einen Anspruch darauf hätten. Das bestätigt auch eine Studie aus dem Jahr 2020, wonach etwa 30 Prozent aller anspruchsberechtigten Haushalte keinen Antrag auf staatliche Unterstützung gestellt haben, obwohl sie die Voraussetzungen dafür erfüllten. Amnesty International geht davon aus, dass diese so genannte Non take up-Rate in den letzten Jahren weiter gestiegen ist.

Eine Flut an Formularen

Eine der Hürden, mit denen die Menschen konfrontiert sind, ist die Antragstellung selbst. In dem Bericht wird aufgezeigt, mit welchen teils fast als Schikanen anmutenden Zugangsvoraussetzungen Armutsbetroffene konfrontiert sind. So müssen sie etwa für den Sozialhilfe-Antrag eine immense Vielzahl an Dokumenten und Nachweisen vorlegen – das Problem dabei: Diese sind sprachlich kompliziert und überfordern teils sogar Sozialarbeiter*innen beim Ausfüllen, weiß Amnesty-Juristin Researcherin Ronya Alev, die für den Bericht dutzende Interviews geführt hat. Abgesehen davon fallen für das Beschaffen mancher Dokumente Kosten an – eine zusätzliche und finanzielle Belastung für die Antragsteller*innen, die ohnehin bereits in prekären finanziellen Situationen leben.

Recht auf soziale Sicherheit versus Almosen für Bittsteller

„Das Recht auf soziale Sicherheit heißt, dass alle Menschen einen tatsächlichen, effektiven Zugang zur Sozialhilfe haben müssen. Das bedeutet auch, dass das Antragsverfahren für alle zu bewältigen sein muss“, betont Alev. Dazu gehört unter anderem, entsprechende Zugangsmöglichkeiten zu den Ämtern zu schaffen und die Menschen bei der Beantragung zu unterstützen. „Derzeit ist es vom Zufall abhängig, ob ich am Amt jemanden antreffe, der mich in meinem Antrag unterstützt oder mich als Bittsteller*in behandelt“, kritisiert sie.

Aus vielen Gesprächen wissen wir, dass die Menschen sich alleine gelassen oder beschämt fühlen. Eine Frau hat die Antragstellung am Amt so beschrieben, als würde sie zum Feind gehen.

Ronya Alev, Researcherin bei Amnesty International Österreich

Hier liege grundsätzlich ein Problem: „Sozialhilfe wird von vielen als Almosen angesehen, die Menschen, die diese beantragen, werden oft als Bittsteller*innen behandelt. Dabei geht es hier um eine staatliche Unterstützung, auf die sie ein Recht haben“, betont die Menschenrechtsorganisation in ihrem Bericht. Alev nimmt dabei die Politik in die Pflicht: „Politiker*innen erwecken in ihren Aussagen oft – durchaus bewusst – den Eindruck, dass es am*an der Einzelnen liegt, Armut zu überwinden. Das heißt im Umkehrschluss auch, dass sie der Meinung sind, dass Armut die Verantwortung, wenn nicht sogar Schuld, der*des Einzelnen ist.“ Dabei, so sind sich Expert*innen und Hilfsorganisationen einig, ist Armut meist die Folge von strukturellen Versäumnissen des Staates. „Politiker*innen sollten Armut als eine Menschenrechtsverletzung und die Rechte von Betroffenen anerkennen, anstatt negative Stereotype zu bekräftigen“, fordert Ronya Alev bei der Präsentation des Berichts.

Überbordende Anspruchskriterien und Mitwirkungspflichten betreffen insbesondere Frauen und Menschen mit Behinderungen

Eine weitere Hürde im Zugang zur Sozialhilfe betrifft die überbordenden Anspruchskriterien, etwa beim Nachweis der Einkommens- und Vermögenssituation. Dieser bezieht sich nämlich nicht nur auf die antragstellende Person selbst, sondern auf das gesamte Haushaltseinkommen. Entsprechend müssen auch Familienmitglieder im gleichen Haushalt ihre Finanzen offenlegen – was zu Abhängigkeiten und Spannungen in einer ohnehin belasteten Situation führen kann.

Auch die Anforderung, zunächst alle offenen Unterhaltsansprüche einzufordern, stellt für manche Personengruppen eine immense Hürde dar. „Für Frauen, die sich aus gewaltvollen Beziehungen gelöst haben, ist es zum Teil unmöglich, mit ihrem Ex-Partner in Verbindung zu treten und Geld einzufordern, selbst wenn es ihnen rechtlich zusteht. Dadurch können sie aber auch ihren Anspruch auf Sozialhilfe nicht geltend machen“, erklärt Ronya Alev das Dilemma. „Auch auf Menschen mit Behinderungen wirkt sich diese Regelung überdurchschnittlich negativ aus: Sofern sie als nicht selbsterhaltungsfähig eingestuft sind, müssen sie Unterhaltsansprüche gegenüber ihren Eltern oder gegebenenfalls auch ihren Kindern verfolgen.“

Aus Gesprächen mit Betroffenen, aber auch mit Expert*innen wissen wir, dass Menschen regelmäßig auf ihren Anspruch auf Sozialhilfe verzichten, weil sie Unterhaltsansprüche nicht rechtlich verfolgen oder in den extremsten Fällen ihre Familie nicht verklagen möchten.

Ronya Alev, Researcherin bei Amnesty International Österreich

Menschen mit Kinderbetreuungspflichten – bekanntlich meist Frauen – wiederum scheitern zum Teil an den so genannten Mitwirkungspflichten: Demnach müssen sie nachweisen, dass sie arbeitswillig sind und entsprechend Bewerbungen ausschicken bzw. Jobangebote annehmen. Können sie das nicht – etwa, weil sie keine Versorgung für ihre Kinder haben – dann wird ihnen unter Umständen die Sozialhilfe gekürzt. Ähnlich verhält es sich mit Migrant*innen, die den Besuch von Deutschkursen nachweisen müssen, was aber zum Teil aufgrund ihrer Betreuungspflichten schwierig bis unmöglich ist.

Forderung an alle Parteien: Armut anerkennen, Sozialhilfe neugestalten, Hürden abbauen

Als Konsequenz dieser Erkenntnisse und im Vorfeld der Nationalratswahlen in Österreich fordert Amnesty International nun von der Politik, „Armut in Österreich als menschenrechtliches Problem anzuerkennen, das es zu lösen gilt“, so Ronya Alev. Nachdem in dem aktuell herrschenden Klima bzw. Vorwahlmodus keine Änderungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes mehr zu erwarten sind, gilt der Appell besonders den wahlwerbenden Parteien. Diese müssten sich klar dazu bekennen, dass es die Aufgabe Österreichs ist, Armut zu bekämpfen und allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Das bedeute auch, das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz zu überarbeiten und die bestehenden Zugangsbeschränkungen zu beseitigen.

Alev wiederholt außerdem ihre Forderung, bei der Sozialhilfe wieder Mindestsätze vorzusehen, da die vor einigen Jahren eingeführten Höchstsätze eine Verschlechterung für die Betroffenen waren und kein Leben in Würde ermöglichen.

Neben der Bundesregierung adressiert Amnesty ihre Forderungen auch an die Landesregierungen und fordert diese auf, die bestehenden Hürden im Zugang zur Sozialhilfe abzubauen.

Hinweis Update: In einer früheren Version dieses Texts stand, dass 30% aller Haushalte in Wien keinen Antrag auf staatliche Unterstützung gestellt haben. Die Zahl aus der zitierten Studie stimmt, aber der Bezug auf Wien war falsch und wurde daher im Text korrigiert.