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Im Jahr 2019 waren 16,9% der österreichischen Bevölkerung – oder mehr als 1.4 Millionen Menschen – armutsgefährdet und hatten somit ein Einkommen unter der Armutsschwelle. 303.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren lebten 2019 in Haushalten mit Ausgrenzungsgefährdung. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheit sind eine Realität in Österreich. Durch die COVID-19-Pandemie wird diese existierende Ungleichheit noch verschärft.
Ohne soziale Sicherheit sowie angemessene und sichere Arbeitsbindungen, steigt die Armutsgefährdung. Das zieht negative Konsequenzen für Gesundheit, menschenwürdiges Dasein und letztlich auch für das Recht auf Leben nach sich. In weiterer Folge werden die gesellschaftliche Teilhabe, die Ausübung ziviler und bürgerlicher Rechte, wie Meinungsäußerungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, eingeschränkt. Damit macht die COVID-19 Pandemie deutlich, dass die einzelnen Menschenrechte eng miteinander verbunden sind, einander wechselseitig bedingen und daher gemeinsam umgesetzt werden müssen.
Gleichzeitig wird sichtbar, dass die COVID-19-Pandemie zu einer Welle an Solidarität zwischen den Menschen geführt hat – von nachbarschaftlicher Unterstützung bis hinzu Mieterlässen durch Vermieter*innen. Auch hat der Staat selbst Mittel und Unterstützungsprogramme zur Verfügung gestellt, um die unmittelbaren Auswirkungen der COVID-19-Pandemie abzufedern. Dennoch – die Achtung und Wahrung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, wie das Recht auf angemessene und sichere Arbeitsbedingungen und das Recht auf soziale Sicherheit, sind nicht bloß Wohltätigkeiten Österreichs, sondern menschenrechtliche Verpflichtungen, die Österreich durch die Ratifizierung entsprechender völkerrechtlicher Verträge eingegangen ist.
Demzufolge ist Österreich völkerrechtlich dazu verpflichtet, die volle Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach und nach und unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen zu gewährleisten. Darüber hinaus müssen die Kernelemente dieser Rechte – selbst in herausfordernden Zeiten, wie der COVID-19-Pandemie – stets unter Berücksichtigung des Diskriminierungsverbots und des Verbots von rückschrittlichen Maßnahmen gewährleistet werden.
Rund drei Monate nach der Verabschiedung und Umsetzung von drastischen – und wohl auch notwendigen – Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie durch die österreichische Bundesregierung und den Nationalrat, zeigen sich erste längerfristige Folgen dieses Lockdown. Wachsende Ungleichheit, insbesondere die Verteilung von wirtschaftlichen Möglichkeiten, aber auch der Anstieg an Armutsgefährdung, sind in Österreich, aber auch weltweit, eine dramatische Konsequenz der COVID-19 Maßnahmen.
Auch in Österreich gibt es erste Anzeichen dafür – aufgrund der COVID-19-Pandemie sind im Mai 2020 mehr als 500.000 Menschen arbeitslos und rund 1.3 Millionen Menschen zur Kurzarbeit angemeldet gewesen. Betroffen davon sind insbesondere Menschen in a-typischen oder prekären Arbeitsverhältnissen, wie beispielweise geringfügig Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte, Zeitarbeitskräfte (sogenannte „Leiharbeiter*innen“), oder Menschen, die zur Gruppe der working-poor gehören. Dadurch werden direkt deren Rechte auf Arbeit und soziale Sicherheit berührt. Darüber hinaus gibt es auch erste Befunde, wonach sich die soziale (Chancen-)Ungleichheit von armutsgefährdeten Kindern aufgrund des Home Schooling verstärken wird. Das berührt direkt das Recht dieser Kinder auf einen nichtdiskriminierenden Zugang zu adäquater und qualitätsvoller Bildung. Als Faktoren, die zu dieser steigenden Bildungsungleichheit führen, wurden von den Studienautor*innen vor allem die schlechte technische Ausstattung, beengte Wohnverhältnisse und geringe Möglichkeiten der Unterstützung durch Eltern oder Geschwister, genannt.
Armutsgefährdete oder manifest arme Menschen sind tendenziell häufiger einer Gefährdung ihrer Gesundheit ausgesetzt, wie eine Studie von 2017 aufzeigt. Laut Statistik Austria, sterben von Armut betroffene Menschen um zehn Jahre früher, als der Rest der Bevölkerung. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von erhöhter Beeinträchtigung durch Lärm und Schadstoffe aufgrund ihrer Wohnungssituation bis hin zu erhöhtem Stress aufgrund von finanziellen Sorgen. Gleichzeitig haben viele armutsgefährdete Menschen, aufgrund zahlreicher Barrieren, keinen adäquaten Zugang zum Gesundheitssystem. Dies erschwert eine angemessene Gesundheitsvorsorge und –Versorgung. So berichteten Expert*innen der Wiener Sozialorganisation neunerhaus Amnesty International Österreich, dass während der COVID-19-Pandemie immer mehr Menschen das neunerhaus Gesundheitszentrum aufsuchten und dass vor allem psychosoziale Belastungen, wie Stress, große Verunsicherung oder Ohnmachtsgefühle, bei den Menschen enorm hoch gewesen sind.
Die COVID-19-Pandemie hat vor allem für Menschen, die obdachlos oder wohnungslos sind, gravierende psychische Belastungen zur Folge. Diese Menschen haben nicht die Resilienz und das soziale Netz, welche diese psychischen Belastungen vermindern könnten.
Elisabeth Hammer, neunerhaus, Wien
Die Achtung und der Schutz der Menschenrechte sind gerade jetzt unabdingbar und Teil der Lösung, um die Gesundheit, das Leben und die Lebensgrundlage aller Menschen zu schützen. Die staatlichen Verpflichtungen während der COVID-19-Pandemie umfassen die Verabschiedung von gezielten Programmen, um Jobs und Gehälter für alle arbeitenden Menschen zu sichern, die Umsetzung von sozialen Hilfsprogrammen, um Menschen in Not zu unterstützen, und das Ergreifen von gezielten Maßnahmen, die die Gesundheit und Lebensgrundlage aller Menschen, insbesondere jener, die Unterstützung brauchen, schützen.
Es ist unbestritten, dass Menschen, die in sogenannten „systemerhaltenden“ Branchen beschäftigt sind, wie beispielsweise im Gesundheitsbereich, in der Lebensmittelversorgung oder in anderen Bereichen der kritischen Infrastruktur, dem Virus Risiko stärker ausgesetzt sind. Das bedeutet weiter, dass vor allem Frauen dem Virus Risiko stärker ausgesetzt sind, wie Expert*innen Amnesty International Österreich berichteten, da vorrangig Frauen in diesen Bereichen tätig sind. Damit besteht zwangsläufig für sie auch ein erhöhtes Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren, daran zu erkranken oder im schlimmsten Fall, daran zu sterben, wenn sie während der Ausübung ihrer Arbeit nicht ausreichend davor geschützt werden.
In diesem Zusammenhang werden die völkerrechtlichen Verpflichtungen, nämlich die Wichtigkeit des Arbeitnehmer*innenschutzes während der COVID-19-Pandemie und die Gesundheit eines*einer jeden Arbeitnehmers*in zu garantieren, untermauert und sowohl von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als auch von den UN-Sonderberichterstatter*innen in einer gemeinsamen Aussendung in Erinnerung gerufen.
Jede*r Arbeitnehmer*in ist von wesentlicher Bedeutung […]. Jede*r Arbeitnehmer*in hat das Recht, vor Gefahren am Arbeitsplatz, einschließlich des Coronavirus, geschützt zu werden.
UN-Sonderberichterstatter*innen
In Österreich existiert eine Vielzahl an einfachgesetzlichen Regelungen, die den Arbeitnehmer*innenschutz grundsätzlich gewährleisten. Daneben wurden auch Maßnahmen gesetzt, um den Schutz der Arbeitnehmer*innen speziell während der COVID-19-Pandemie zu garantieren. So hatte insbesondere am Höhepunkt der Pandemie, die Sicherstellung von geeigneter persönlicher Schutzausrüstung, wie Mund-Nase-Schutzmasken, Handschuhen oder Desinfektionsmittel – vor allem für Menschen im Gesundheitsbereich und in der Lebensmittelversorgung – eine hohe Priorität. Dennoch gab es Berichte aus den Medien sowie direkt an Amnesty International Österreich, die belegen, dass es zu wenige geeignete Mund-Nase-Schutzmasken für das Gesundheitspersonal gab und 24h-Pflegebetreuer*innen sehr spät geeignete Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt bekamen oder diese selbst besorgen mussten.
Weiters wurde eine gesetzliche Grundlage geschaffen, die einen Anspruch der zu einer Risikogruppe gehörenden Arbeitnehmer*innen auf Home Office, Arbeitsplatzumgestaltung bzw. befristeter Dienstfreistellung festlegt. Nachdem anfangs Arbeitnehmer*innen in systemrelevanten Berufen von dieser Schutzregelung explizit ausgenommen waren, wurde diese ungerechtfertigte Unterscheidung schließlich behoben. Dennoch findet diese Schutzregelung weiterhin keine Anwendung auf Arbeitnehmer*innen, deren Familienangehörige zu einer Risikogruppe gehören oder für Selbständige oder Landwirt*innen. Die Gründe für diese unterschiedliche Behandlung sind nicht nachvollziehbar und wurden von den zuständigen Entscheidungsträger*innen nicht erläutert.
Wie Berichte aus der ganzen Welt zeigen, werden nicht alle Arbeitnehmer*innen während ihrer Arbeit gleichermaßen vor dem Coronavirus geschützt, wie auch die UN-Sonderberichterstatter*innen in einer gemeinsamen Aussendung festhielten.
Migrantische Arbeiter*innen werden wie eine ‚Sondergruppe‘ behandelt. Es ist anscheinend so, dass es einfacher ist, bei ihnen Kompromisse zu machen, die man sonst nicht machen würde.
Aktivistin, Wien
Auch in Österreich wurde der Arbeitnehmer*innen-Schutz missachtet. In einem Postverteilerzentrum, in dem Zeitarbeitskräfte (sogenannte „Leiharbeiter*innen“) beschäftigt waren, wurde ein Infektionscluster entdeckt und Ernthelfer*innen berichteten von schockierend ausgestatteten Unterkünften und dass Abstandsregeln nicht eingehalten werden (können), weil zu viele Menschen gleichzeitig arbeiten, um die vorgegebene Zeit einhalten zu können. Weiters wurde über Infektionen mit dem Coronavirus in einem Amazon-Verteilerzentrum berichtet. Expert*innen berichteten Amnesty International Österreich auch davon, dass 24h-Betreuer*innen aus dem EU-Ausland sich bei ihrer Einreise nach Österreich auf das Coronavirus testen lassen mussten, es jedoch nicht klar und einheitlich geregelt war, wer die Kosten für die Tests letztendlich übernehmen wird.
Bei 24h-Pflegebetreuer*innen fehlten komplett die Schutzmaßnahmen und sie wurden weder vom Staat noch von den Vermittlungsfirmen bereitgestellt. Das ist extrem problematisch. Denn einerseits gehören die Menschen, die von ihnen betreut werden, zur Risikogruppe und andererseits gehören oft viele 24h-Pflegebetreuer*innen selbst zu einer Risikogruppe.
Aktivistin, Wien
Gerade bei Menschen, die geringfügig beschäftigt sind oder Zeitarbeitskräfte, erlauben die generellen Arbeitsrahmenbedingungen, wie beispielsweise Zeitdruck oder beengte Arbeitsräumlichkeiten, es nicht, diese notwendigen Schutzmaßnahmen einzuhalten. Da jedoch ein Wegfall dieser, wenn auch unsicheren, Beschäftigungsverhältnisse für viele a-typisch oder prekäre Beschäftige eine Existenzbedrohung darstellt, können es sich viele Menschen nicht leisten, ihrer Arbeit fernzubleiben. Das kann gerade in Zeiten wie der COVID-19-Pandemie verheerende Folgen für die Gesundheit und das Leben der Arbeitnehmer*innen und auch ihrer Arbeitskolleg*innen haben – und wie der weitreichende Ausbruch des Coronavirus in Deutschland gezeigt hat, letztlich auch für die allgemeine Eindämmung der Pandemie, wodurch die Gesundheit aller gefährdet wird.