© Target Group Franz Oss
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aus dem magazin

Für Versöhnung gibt es kein Patentrezept

10. Dezember 2024

Aus dem Amnesty Magazin, Ausgabe Dezember 2024

Wie kann Frieden gelingen? Die Friedens- und Konfliktforscherin Rina Alluri über Versöhnung, die Bedeutung von Gerechtigkeit und die Rolle der nächsten Generation.

Text: Julia Trampitsch 

Wie lässt sich der Übergang von einem offenen Konflikt zu Frieden bestimmen?

Die Abgrenzung, wann ein Konflikt beendet ist, ist fließend und schwer zu definieren. Selbst in Nachkriegskontexten kann es noch zu Konflikten kommen. Es ist wichtig, Frieden nicht als ein festes Ziel zu verstehen, das einmal erreicht wird und dann für immer statisch bleibt. Wir müssen ihn vielmehr als fließend, dynamisch und verletzlich begreifen. 

Die Zahl der Menschen, die in Konflikten sterben, ist so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Wird Frieden immer mehr zur Utopie?

Für mich sind Utopie und Frieden keine fiktiven, unerreichbaren Orte. Wir haben die Aufgabe und die Verantwortung, die Samen des Friedens und der radikalen Vorstellungskraft zu säen, um dorthin zu gelangen. 

Welche Ansätze gibt es, um nachhaltige Friedensprozesse zu fördern?

Der Diskurs über Aufarbeitung umfasst viele Aspekte, wie Reformen, Wiedergutmachung und Versöhnung. Das Konzept der Übergangsjustiz beschreibt die Idee eines Staats, der sich nach einem Krieg oder Konflikt an Reformen beteiligt. Dazu zählen institutionelle Reformen, Wahrheitskommissionen oder Strafverfolgung, oft auch unter Beteiligung internationaler Akteure, wie zum Beispiel des Internationalen Strafgerichtshofs. Transformative Gerechtigkeit geht noch weiter und betont die Einbindung lokaler Gemeinschaften in den Friedensprozess. Es geht also nicht nur um nationale oder internationale Ebenen, sondern auch darum, wie lokale Akteure, NGOs und Gemeinschaften in den Friedensprozess einbezogen werden. 

Gibt es neue Konzepte in der Friedensforschung, die mehr Beachtung verdienen? 

Was meine Arbeit und mein Verständnis von Friedensförderung heute beeinflusst, ist das Konzept der Intersektionalität. Dieser von der Juraprofessorin Kimberlé Crenshaw geprägte Ansatz zeigt, wie sich verschiedene Formen der Unterdrückung wie Rassismus, Klasse und Sexismus mit unterschiedlichen Formen der Diskriminierung überschneiden. Wir müssen auch die Komplexität von Konflikten verstehen und wie Menschen mit sich überschneidenden marginalisierten Identitäten auf besondere Weise von Konflikten und Kriegen betroffen sind. Zugleich sind Konflikte mehr als nur Identitätspolitik. Sie beruhen auf sich überschneidenden Aspekten wie Identität, Land, Ressourcen, Territorium, Ideologie, Bedürfnissen usw. Um voranzukommen, müssen wir die bestehenden Mechanismen und Institutionen prüfen und darüber nachdenken, wie sie die Friedenskonsolidierung unterstützen können, aber auch, wo sie ihre Grenzen haben. Wir müssen bereit sein, neue Mechanismen und Institutionen zu entwickeln, um dem hohen Maß von Gewalt und Konflikten, dass wir heute erleben, entgegenzuwirken.

Welche Rolle spielt Versöhnung in der Aufarbeitung von Konflikten?

Versöhnung hat viele Pfeiler, darunter verschiedene Formen von Reformen und Elementen der Wiedergutmachung. Die Herausforderung besteht darin, dass es kein Patentrezept für Versöhnung gibt. Wie Versöhnung stattfinden kann, hat viel damit zu tun, wie ein Krieg beendet wird. In Sri Lanka beispielsweise, wo ich viele Jahre lang geforscht habe, endete der Bürgerkrieg mit einer militärischen Niederlage einer Konfliktpartei. Trotz des Kriegsendes blieben Konflikte und Proteste bestehen. In Südafrika hingegen gab es einen umfassenden nationalen Versöhnungsprozess, der mit einem Waffenstillstand, einer Wahrheitskommission und demokratischen Wahlen verbunden war. Dort gab es eine Transformation, die auf Reformen und Wiedergutmachung aufbaute. Doch auch hier war der Weg nicht frei von Fehlern.

Krieg & Frieden

Mit 56 ist die Zahl der Konflikte weltweit auf dem höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Laut dem Global Peace Index des Instituts für Wirtschaft und Frieden ist unsere Welt im Jahr 2024 zum zwölften Mal in den letzten 16 Jahren weniger friedlich geworden. Während sich der Frieden in 65 Ländern verbessert hat, hat er sich in 97 Ländern verschlechtert. Die Konflikte im Nahen Osten sowie zwischen Russland und der Ukraine tragen maßgeblich zum Rückgang des Weltfriedens bei.

Besonders alarmierend sind die humanitären Folgen: In den Jahren 2022 und 2023 starben insgesamt mindestens 464.009 Menschen in bewaffneten Konflikten. Laut UNHCR waren mit Ende Mai 2024 weltweit 120 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Konflikten und Verfolgung – mehr als die Bevölkerung Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und der Niederlande zusammen. 

Krieg kostet

2,44 Billionen US-Dollar wurden im Jahr 2023 für militärische Zwecke ausgegeben. Das sind inflationsbereinigt 6,8 Prozent mehr als im Vorjahr, der neunte Anstieg in Folge und damit ein neuer Höchststand. 

Quelle: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) 

Friedenseinsätze

= sollen dazu beitragen, Gesellschaften nach externen oder internen Gewaltkonflikten zu stabilisieren, Frieden zu sichern oder die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Im Jahr 2023 gab es weltweit 63 aktive Friedenseinsätze. Auch Österreich engagiert sich als Mitglied internationaler Organisationen aktiv in der Friedensförderung. Seit 1960 hat sich Österreich mit über 100.000 Soldat*innen und Helfer*innen an mehr als 100 Missionen beteiligt, unter anderem in Bosnien, Kosovo und dem Libanon.

Quelle: bunderheer.at, SIPRI

Frieden und Frauen

Nur 13 % aller Verhandler*innen bei Friedensabkommen sind weiblich. Dabei zeigt die Erfahrung, dass Friedensabkommen, an denen Frauen aktiv beteiligt waren, eine 20% höhere Wahrscheinlichkeit haben, länger als zwei Jahre zu halten. 

Quelle: UN-Women

Gibt es gesellschaftliche Werte oder Prinzipien, die entscheidend sind, um eine Kultur des Friedens zu schaffen?

Wir reden viel über Gleichheit – gleiche Rechte, gleiche Chancen, gleichen Zugang –, aber für mich ist Gerechtigkeit ein ebenso wichtiger Wert. Wenn wir über demokratische Werte sprechen, betonen wir häufig die Gleichheit und vergessen dabei die Gerechtigkeit. Es gibt ein berühmtes Bild von drei jungen Männern unterschiedlicher Größe, die vor einem Zaun stehen und ein Baseballspiel jenseits des Zauns sehen wollen. Sie müssen sich auf eine Kiste stellen, um hinüberschauen zu können. Gibt man allen eine gleich hohe Kiste, kann nicht jeder das Spiel sehen. Wenn man aber die Größe der Jungen beachtet, dann können alle drei teilhaben. Es ist wichtig, Ansätze zu entwickeln, die unterschiedliche Bedürfnisse anerkennen und wertschätzen, ohne sie abzuwerten.

Wie lässt sich die nächste Generation ermutigen, sich für Frieden und Versöhnung einzusetzen?

Bildung spielt eine Schlüsselrolle, sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich. Die Ukraine ist ein aktuelles Beispiel: Weil Schulen zerstört sind, werden alternative Räume für Bildung geschaffen, um sicherzustellen, dass Kinder weiterhin lernen. Diese Kinder werden später die Gesellschaft wieder aufbauen. Ohne Bildung ist es hingegen sehr schwer, eine friedliche Zukunft zu gestalten.

Wie wichtig ist es, die eigene Geschichte und Kultur zu verstehen, um Frieden und Versöhnung zu fördern? 

Geschichte ist wichtig, aber wir müssen auch in der Gegenwart leben und mit einem visionären Blick in die Zukunft schauen. In Gemeinschaften, deren Geschichte ausgelöscht wurde, wie zum Beispiel afroamerikanischen oder indigenen Gesellschaften, fehlt das Wissen um die eigene Vergangenheit oft. Es reicht jedoch nicht, sich nur auf die Vergangenheit zu stützen, um Frieden zu schaffen. Wir müssen gleichzeitig offen sein für eine Zukunft, die über die Geschichte hinausgeht. 

Neben Ihrer Forschungsarbeit widmen Sie sich der Lyrik. Wie kann Kunst zu Frieden beitragen?

Inmitten dieser Herausforderungen bleibt unsere Menschlichkeit. Mensch sein heißt gestalten, machen und in Gemeinschaft leben. Kunst gibt uns die Möglichkeit, Solidarität, Empathie und Gemeinschaft über institutionelle Grenzen hinweg auszudrücken, wo Politik und Forschung oft versagen. Künstler*innen spielen eine entscheidende Rolle beim Verständnis von Frieden und beim Ausdruck unserer Menschlichkeit und Solidarität, selbst in Zeiten von Krieg und Gewalt.

Dr. Rina M. Alluri ist UNESCO-Lehrstuhlinhaberin für Friedensforschung und Assistenzprofessorin im Masterstudiengang Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wirtschaft und Frieden, Konflikte um natürliche Ressourcen, konfliktbetroffene Diaspora, dekolonisierende Friedenserziehung sowie Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion.

Alles, wonach wir als menschliche Gemeinschaft streben – Würde, Hoffnung, Fortschritt und Wohlstand – ist abhängig vom Frieden. Aber Frieden wiederum hängt von uns ab.

António Guterres, UN-Generalsekretär