China: Amnesty fordert UN-Untersuchung der Umerziehungslager in Xinjiang
19. Oktober 2021Zusammenfassung
- Mehr als 323.000 Menschen weltweit unterzeichnen Amnesty-Petition zur Freilassung von Hunderttausenden Menschen aus sogenannten Umerziehungslagern
- Offener Brief fordert UN zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen gegen Uigur*innen, Kasach*innen und Angehörige anderer muslimischer Minderheiten auf
- Neue Berichte dokumentieren die Auswirkungen auf die Familienangehörigen von Inhaftierten
323.832 Menschen aus 148 Ländern und Regionen haben Amnestys Petition zur Freilassung von Hunderttausenden Muslim*innen in China unterschrieben. Die Petition ist Teil einer laufenden Kampagne, mit der sich Amnesty dafür einsetzt, die willkürlichen Inhaftierungen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen zu stoppen, von denen überwiegend muslimische ethnische Gruppen in Chinas Uigurischer Autonomen Region Xinjiang betroffen sind.
In einem offenen Brief hat Amnesty International am 11. Oktober nun die UN-Mitgliedstaaten aufgefordert, die schweren Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang aufs Schärfste zu verurteilen und den Weg für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht zu ebnen.
Weltweit haben überwältigend viele Menschen unsere Petition unterzeichnet, um ihre Empörung über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere schwere Menschenrechtsverletzungen an Muslim*innen in Xinjiang zum Ausdruck zu bringen.
Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
„Das zeigt, dass die Menschen auf der ganzen Welt Chinas Bemühungen, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, durchschauen und sehen, dass China auf glaubwürdige Berichte über die Gräueltaten in Xinjiang nur mit noch mehr Gewalt und Repression reagiert. Jede Unterschrift ist eine direkte Aufforderung an China, diese systematische Verfolgung sofort zu beenden.“ Amnesty fordert, dass China umgehend die Internierungslager schließt und alle willkürlich inhaftierten Menschen freilässt – auch diejenigen, die in Gefängnissen inhaftiert sind.
Übergabe von Petitionen an chinesische Botschaften
Amnesty International Unterstützer*innen aus zehn Städten weltweit haben in den vergangenen Tagen öffentliche Veranstaltungen organisiert, um ihre Petitionen zur Freilassung der Inhaftierten in Xinjiang an die chinesischen Botschaften zu übergeben. So versammelten sich am 7. Oktober etwa Aktivist*innen vor der chinesischen Botschaft in London und trugen die charakteristischen blauen Uniformen, die die Häftlinge in den Internierungslagern tragen müssen. Ähnliche Veranstaltungen sind vor den chinesischen Botschaften in Dakar (Senegal), Helsinki (Finnland), Lima (Peru), Lissabon (Portugal), Madrid (Spanien), Paris (Frankreich), Den Haag (Niederlande) und Washington DC (USA) geplant.
Berichte von Familienangehörigen
Die Kampagne greift mehr als 60 Einzelfälle von Menschen auf, die in Internierungslagern – sogenannten „Einrichtungen für Transformation durch Erziehung“ – gefangen sind oder zu jahrelangen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Diese Fälle sind nur ein Bruchteil der Hunderttausenden, womöglich sogar bis zu mehr als einer Million Menschen, die die chinesischen Behörden unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ gefangen halten. Im Zuge der Kampagne hat Amnesty International Dutzende Familienangehörige der willkürlich in Xinjiang Inhaftierten befragt und Videos veröffentlicht, um einige ihrer Erfahrungen zu teilen.
Memetelis Schwester Hayrigul Niyaz wurde festgenommen, als sie von ihrem Studium im Ausland zurückkehrte. Memeteli hat keine Informationen über ihren Verbleib in Xinjiang. Er erzählte Amnesty International: „Falls ich sie wiedersehe, werde ich ihr sagen: Es tut mir leid, meine Schwester, dass ich dich nicht vor der Lagerhaft schützen konnte“.
Adilas Vater Sadir Ali war 2018 zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Berichten zufolge war der Grund, dass er während des Ramadan fastete. Adila sagte:
Tief in meinem Herzen werde ich niemals glücklich sein, denn mein Vater ist im Gefängnis oder in einem Lager inhaftiert. Wieso tut uns die chinesische Regierung das an?
Adila
Sie erzählte, sie habe ihre Heimatstadt seit elf Jahren nicht mehr besuchen können und habe den Kontakt zu ihren Verwandten in Xinjiang verloren.
Abduweli Ayup, ein bekannter uigurischer Aktivist, der jetzt in Norwegen lebt, erzählte Amnesty International von seiner Schwester Sajidugul Ayup und seinem Bruder Erkin Ayup, die in Xinjiang wegen „Anstiftung zum Terrorismus“ zu zwölf beziehungsweise 14 Jahren Haft verurteilt wurden. Er sagte:
Bei allem, was ich tue, befürchte ich, dass es für meine Familie gefährlich sein könnte. Niemand kann meine Familienmitglieder beschützen. Ich weiß, dass meine Worte die chinesische Regierung vielleicht sehr wütend machen werden, aber zumindest werde ich sie wissen lassen, dass ich nicht einfach zusehen werde, wie sie meine Schwester foltern. Ich fürchte mich nicht mehr davor, meine Meinung kundzutun.
Abduweli Ayup, uigurischer Aktivist
Hintergrund: China begeht Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Uigur*innen, Kasach*innen und andere vornehmlich muslimische ethnische Minderheiten in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang in China werden systematisch und massenhaft verfolgt, inhaftiert und gefoltert. Dieses Vorgehen der chinesischen Regierung stellt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, wie Amnesty International in einem im Juni 2021 veröffentlichten Bericht feststellte.
Bislang hat die chinesische Regierung keinerlei Bereitschaft gezeigt, die Realität in Xinjiang anzuerkennen, den Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten, unparteiische und gründliche Untersuchungen durchzuführen und die mutmaßlichen Verantwortlichen in fairen Verfahren ohne Rückgriff auf die Todesstrafe vor Gericht zu stellen.
Amnesty kritisiert aber auch die UN-Gremien und die Mitgliedstaaten, die nicht oder zu langsam reagieren. Vergangene Woche ging eine weitere Sitzung des UN-Menschenrechtsrates zu Ende, ohne dass Maßnahmen gegen das Unrecht in Xinjiang ergriffen wurden. Trotz erdrückender Beweise für die schweren Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtlichen Verbrechen in den vergangenen vier Jahren sind die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedstaaten bis jetzt nicht ihrer Pflicht nachgekommen, Rechenschaft von China einzufordern“, so Agnès Callamard. Amnesty International fordert die UN-Mitgliedstaaten daher auf, gemeinsam die schweren Menschenrechtsverletzungen Chinas in Xinjiang aufs Schärfste zu verurteilen und einen robusten, unabhängigen, internationalen Untersuchungsmechanismus einzurichten, um die Rechenschaftspflicht sicherzustellen.
Die internationale Gemeinschaft darf nicht mehr so tun, als würde sich die grauenhafte Realität für Muslim*innen in Xinjiang irgendwie von selbst verbessern. Es wurde bereits zu viel Zeit verschwendet. Die UN-Mitgliedstaaten haben jetzt mehr denn je die Pflicht, die Rechte aller Menschen in Xinjiang zu schützen, eine Untersuchung der mutmaßlichen völkerrechtlichen Verbrechen einzuleiten und die Rechenschaftspflicht sicherzustellen.
Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International