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Neuer Amnesty-Bericht über Russland: Massive Repression gegen unabhängige Medien und Menschenrechtsbeobachter*innen

24. November 2022

Die russischen Behörden haben ein ausgeklügeltes System schwerer Repressalien entwickelt, um öffentliche Proteste zu unterdrücken. Die massiven Einschränkungen treffen nicht nur Demonstrierende, sondern auch Journalist*innen und unabhängige Beobachter*innen. So soll jegliche kritische Berichterstattung unterbunden werden.

Seit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 haben die Restriktionen erheblich zugenommen. Die massive Unterdrückung der Antikriegsbewegung macht sowohl öffentlichen Protest an sich als auch den Informationsaustausch darüber praktisch unmöglich.

Im neuen Bericht “Russia: You will be arrested anyway”: Reprisals against Monitors and Media Workers Reporting from Protests dokumentiert Amnesty International Dutzende von Fällen, in denen Journalist*innen und Menschenrechtsbeobachter*innen bei öffentlichen Protesten rechtswidrig in ihrer Arbeit behindert wurden. Die gegen sie ergriffenen Maßnahmen reichen von Gewaltanwendung über willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen bis zu hohen Geldstrafen.

Wir können sehen, dass die russischen Behörden nicht nur alles daransetzen, jeden noch so friedlichen Protest zu unterbinden und hart zu bestrafen. Sie versuchen außerdem zu verhindern, dass solche Proteste überhaupt öffentlich bekannt werden

Natalia Prilutskaya, Russland-Expertin bei Amnesty International

22 Jahre nach Amtsantritt Putins ist Protest mittlerweile praktisch unmöglich

„Die russischen Behörden haben seit Beginn der Präsidentschaft von Wladimir Putin im Jahr 2000 das Recht auf friedlichen Protest nach und nach eingeschränkt. Diejenigen, die versucht haben, dieses Recht wahrzunehmen, wurden immer härter bestraft. Heute ist Russland ein Gebiet, in dem Protest praktisch unmöglich ist. Trotzdem gingen im Februar 2022 Zehntausende auf die Straße, um gegen den Einmarsch in die Ukraine zu protestieren – obwohl ihnen hohe Geld- und Haftstrafen drohten. Als Reaktion verhängten die Behörden gegen zahlreiche Teilnehmer*innen die härtesten verfügbaren Strafen. Außerdem ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Medienschaffende und Menschenrechtsbeobachter*innen vor, die unabhängig über die Proteste berichteten“, sagt Natalia Prilutskaya und sagt weiter:

„Bei den Protesten zur Unterstützung des zu Unrecht inhaftierten Oppositionspolitikers Aleksej Nawalny ein Jahr zuvor sind die Behörden genauso vorgegangen. Der Kreml verhindert, dass die Öffentlichkeit überhaupt von Protesten erfährt, außerdem behindert er die Beobachtung solcher Entwicklungen. So versucht er, jede öffentliche Äußerung von Unzufriedenheit zu unterdrücken.“

Neue Gefahr für unabhängige Medien: Unterdrückung von Antikriegsberichterstattung

In den vergangenen Jahren haben die russischen Behörden ein Rechtssystem etabliert, das die Meinungsfreiheit massiv einschränkt. Das Risiko für Beobachter*innen, Journalist*innen und andere Medienschaffende ist erheblich erhöht, wenn sie über öffentliche Versammlungen berichten.
Bestimmte Gesetze schreiben vor, dass Journalist*innen bei Protesten „deutlich sichtbare Kennzeichen“ tragen müssen, die sie als „Vertreter der Massenmedien“ ausweisen.

Doch die Polizei fordert mehr. So sollen Medienschaffende, die über öffentliche Versammlungen berichten, „Auftragsbriefe einer Redaktion“ oder ihren Reisepass bei sich führen. Die Behörden haben Journalist*innen vor der „Teilnahme“ an bevorstehenden Protesten gewarnt, außerdem nahmen sie Medienschaffende im Vorfeld, während und nach Kundgebungen, von denen sie berichteten, willkürlich fest. In vielen Fällen wurden die Festnahmen mittels übermäßiger und unrechtmäßiger Gewalt durchgeführt, was Folter und anderen Misshandlungen gleichkommen könnte.

Neben den strengen gesetzlichen Einschränkungen der Medienfreiheit durch den Staat geht die Polizei zunehmend willkürlich vor, um Journalist*innen und andere Medienschaffende daran zu hindern, die Öffentlichkeit über die Proteste zu informieren.

Natalia Prilutskaya, Russland-Expertin bei Amnesty International

Gewerkschaft für Medienschaffende geschlossen, Verfolgung von Journalist*innen durch Geldstrafen, Verhaftungen und Strafverfahren

Nach Angaben der unabhängigen Gewerkschaft für Journalist*innen und Medienschaffende (die im September 2022 per Gerichtsbeschluss geschlossen wurde) wurden innerhalb einer Woche nach Ausbruch der Massenproteste gegen die Inhaftierung von Alexej Nawalny am 23. Januar 2021 mindestens 16 Medienschaffende festgenommen. Sieben Mitarbeiter*innen des Komitees gegen Folter, einer prominenten russischen Menschenrechts-NGO, wurden bei der Beobachtung der Proteste willkürlich und in einigen Fällen mit Gewalt festgenommen. In vielen dieser und anderer Fälle standen Journalist*innen und Protestbeobachter*innen wegen „Teilnahme an einer nicht genehmigten öffentlichen Versammlung“ vor Gericht und wurden zu Geldstrafen bzw. zu 10 Tagen oder längerer sogenannter Verwaltungshaft verurteilt.

Die Repressalien gegen Protestbeobachter*innen und Medienschaffende eskalierten nach dem Einmarsch in die Ukraine weiter. Am 4. März 2022 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das das Recht auf freie Meinungsäußerung weiter einschränkt. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hatten die Behörden Strafverfahren gegen mindestens neun Journalist*innen und Blogger*innen wegen des damals neu eingeführten Straftatbestands der „Verbreitung falscher Informationen über die russischen Streitkräfte“ (Paragraf 207, Absatz 3 des Strafgesetzbuchs) eingeleitet. Einige Medienschaffende und Journalist*innen wurden auch wegen eines anderen neuen „Strafbestands“, nämlich der „Verunglimpfung“ der im Ausland stationierten russischen Streitkräfte (Paragraf 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten) strafrechtlich verfolgt, nachdem sie Informationen über den Krieg in der Ukraine verbreitet hatten.

Nach dem neuen Gesetz kann ein Medienbericht, der eine Antikriegsbotschaft enthält oder auch nur zitiert, schnell zu einem möglichen Verfolgungsgrund werden. So wurden im Juni und Juli 2022 Vechernie Vedomosti, ein unabhängiges Medienunternehmen in Jekaterinburg, und dessen Herausgeberin Guzel Aitukova zu einer Geldstrafe von 450.000 Rubel (7.240 US-Dollar) verurteilt, weil sie ein Foto von Antikriegsaufklebern und andere Bilder gegen die Invasion veröffentlicht hatten.

In zwei weiteren Fällen gingen die Behörden gegen mehrere Mitarbeiter*innen der Nachrichtenteams von Dovod, einem unabhängigen Online-Medienunternehmen in Wladimir, und Pskovskaya Guberniya, einer Zeitung in Pskow, vor, weil sie über Antikriegsproteste berichtet hatten.

Am 5. März durchsuchte die Polizei die Wohnungen des Chefredakteurs von Dovod, Kirill Ishutin, und dreier weiterer Journalist*innen - darunter der 17-jährige Evgeny Sautin. Die Medienschaffenden wurden vorgeblich als Zeug*innen in einer strafrechtlichen Untersuchung wegen „Vandalismus“ im Zusammenhang mit Anti-Kriegs-Graffiti an einer lokalen Brücke betrachtet, über die Dovod zuerst berichtet hatte. Am selben Tag drangen Polizei und Sondereinsatzkommandos der Bereitschaftspolizei in die Redaktionsräume der Pskovskaya Guberniya ein, durchsuchten sie und beschlagnahmten Computer, Telefone und anderes technisches Gerät. Grund für das Vorgehen war ein Verwaltungsverfahren, bei dem es um den „Straftatbestand“ der „Verunglimpfung“ der im Ausland stationierten russischen Streitkräfte ging. Dieser Straftatbestand hatte erst am Tag zuvor Gesetzeskraft erlangt. Laut einer anonymen Anzeige soll die Zeitung in ihrem E-Mail-Newsletter zu Massenprotesten aufgerufen haben. Am nächsten Tag gab Pskowskaja Gubernia bekannt, dass sie ihre Arbeit bis auf weiteres einstellen musste.

Journalist*innen wandern ab

Die fortwährenden Angriffe auf die freie Presse wegen der Berichterstattung über die russische Invasion in der Ukraine und die Aktivitäten der Antikriegsbewegung haben zu einer Abwanderung Hunderter Journalist*innen aus Russland geführt. Der unabhängige Fernsehsender TV Rain und die Zeitung Novaya Gazeta waren unter anderem gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. Der Radiosender Echo Moskwy, der als Plattform für einige der kritischsten Stimmen Russlands diente, wurde von den Behörden geschlossen. Die jeweiligen Mitarbeiter*innen mussten neue Wege suchen, um das russische Publikum zu informieren.

Die Rolle der internationalen Gemeinschaft

Das brutale Vorgehen gegen friedliche Demonstrierende, Medienschaffende und unabhängige Menschenrechtsbeobachter*innen muss sofort beendet werden. Die repressiven russischen Gesetze, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken, müssen abgeschafft werden.
„Solange die russische Regierung in der Lage ist, die Rechte und Freiheiten innerhalb des Landes zu beschneiden und den Weg der Selbstisolierung fortzusetzen, werden die schrecklichen Verstöße in allen Bereichen weitergehen, einschließlich des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine“, sagte Natalia Prilutskaya.

Wir brauchen eine genaue und wirksame Kontrolle durch die internationale Gemeinschaft. In so düsteren Zeiten wie diesen ist es von größter Wichtigkeit, der bedrängten russischen Zivilgesellschaft und den unabhängigen Medien die Hand zu reichen und diejenigen zu unterstützen, die die Missstände im Land beobachten und darüber berichten.

Natalia Prilutskaya, Russland-Expertin bei Amnesty International

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