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Häusliche Gewalt: Schattenpandemie im Schlepptau von COVID-19

4. August 2020

Seit Beginn von COVID-19 verzeichnen die Notrufe und Frauenhäuser WELTWEIT einen alarmierenden Anstieg. Regierungen Müssen den Schutz für die Rechte von Frauen und Mädchen stärken – ein Kommentar

Vergangenen Monat haben die Vereinten Nationen vor einer „Schattenpandemie“ im Schlepptau von COVID-19 gewarnt: Der globale Anstieg an häuslicher Gewalt.

Überall auf der Welt kam es verstärkt zu Berichten über Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Grund waren die Lockdowns und anderen Restriktionen: Viele Frauen und Mädchen waren mit ihren Misshandler*innen eingeschlossen oder hatten keinen ungehinderten Zugang zu Sicherheit und Unterstützungsleistungen.

Einschränkungen mögen nötig sein, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren, doch die Länder müssen in gleicher Weise die Sicherheit von Frauen und Mädchen garantieren.

Nils Muižnieks ist Europa-Direktor bei Amnesty International

In Polen könnte die Lage für Frauen und Mädchen noch gefährlicher werden, nachdem Justizminister Zbigniew Ziobro vergangenes Wochenende den Vorschlag verkündete, sich aus der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von häuslicher und anderer Gewalt gegen Frauen zurückzuziehen.

Der europäische Vertrag ist ein Meilenstein zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen, darunter häusliche Gewalt. Doch dieser wichtiger Vertrag sei, so der Minister, „schädlich“, da er „ideologische Passagen“ enthalte, die den Schulen vorschrieben, Kinder zum Thema Gender zu unterrichten.

Kritiker*innen sagen, diese Begründung verdecke den eigentlichen Wunsch der Regierung, das Patriachat zu stärken und gleichzeitig die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter zu verteufeln.

Der polnische Ministerpräsident sagte, das Verfassungsgericht solle überprüfen, ob die Konvention mit der Verfassung in Einklang sei. Das könnte die Entscheidung hinauszögern, ist aber dennoch eine beunruhigende Entwicklung, insbesondere deshalb, weil die Unabhängigkeit des Gerichts in großem Maße beeinträchtigt ist.

Der Rückzug von der Istanbul-Konvention wäre ein gefährlicher Schritt mit desaströsen Konsequenzen für Millionen von Frauen und Mädchen.

Nils Muižnieks ist Europa-Direktor bei Amnesty International

Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) und ihre Koalitionspartnerinnen stehen der katholischen Kirche nah und bringen aktiv eine neokonservative soziale Agenda nach vorn. Seit einer Reihe von Jahren befeuert ihre falsche Darstellung der Frauenrechte und Geschlechtergleichstellung als, so wörtlich, „Genderideologie“ Angriffe gegen die Rechte der LGBTIQ. Die Istanbul-Konvention ist seit langem ein Dorn im Auge der Populist*innen, die die abwegige Behauptung des Ministers unterstützen, sie stelle eine  Bedrohung „traditioneller Familienwerte“ dar.

Hinter seinen Worten verbirgt sich eine tiefe Verachtung für die Rechte von Frauen, Mädchen und LGBTIQ. Sich von der Konvention zurückzuziehen, wäre ein gefährlicher Schritt mit desaströsen Konsequenzen für Millionen von Frauen und Mädchen und Organisationen, die den Überlebenden von sexualisierter und häuslicher Gewalt lebenswichtige Unterstützung geben. Es wäre ein Signal dafür, dass ihre persönliche Sicherheit und ihr Wohlergehen nicht wert sind, geschützt zu werden. Es wäre zudem ein rückwärts gerichteter Schritt, etwas, das in internationalen Menschenrechtsnormen verboten ist.

Der Anstieg häuslicher Gewalt während der COVID-19-Pandemie, zeigt: Regierungen weltweit müssen den Schutz für die Rechte von Frauen und Mädchen stärken!

Nils Muižnieks ist Europa-Direktor bei Amnesty International

Offizielle Statistiken zeichnen, obwohl unvollständig, ein erschreckendes Bild. Hier die Zahlen für Polen aus dem Jahr 2019: Mehr als 65.000 Frauen und 12.000 Kinder zeigten Vorfälle häuslicher Gewalt an oder wurden zu Betroffenen von häuslicher Gewalt erklärt. Doch in nur 2.527 Fällen wurden Ermittlungen wegen Vergewaltigung aufgenommen. Nichtregierungsorganisation schätzen, dass die Prozentzahl der angezeigten Vergewaltigungen dramatisch niedrig ist. 

Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt, dass Frauen in Polen weniger häufig häusliche Gewalt anzeigen als Frauen in anderen Ländern der EU. Die niedrige Zahl der Anzeigen bei der Polizei, so zeigt die Recherche von Amnesty International in Europa, steht im Zusammenhang mit einem Mangel an Vertrauen in das Strafjustizsystem und der Sorge der Betroffenen, dass ihnen nicht geglaubt wird. Diese niedrige Anzeigenrate nimmt der Justizminister jedoch als Beleg dafür, dass es in Polen nur wenig Gewalt gegen Frauen gebe.

Istanbul-Konvention: ein lebenswichtiger Schutzmechanismus für Frauen und Mädchen

Seit Beginn von COVID-19 verzeichnen die Notrufe und Frauenhäuser in ganz Europa einen alarmierenden Anstieg der Anrufe von Frauen, denen aufgrund des Lockdowns und anderer restriktiver Maßnahmen Gewalt droht. Polen ist da keine Ausnahme. Einschränkungen mögen nötig sein, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren, doch die Länder müssen in gleicher Weise die Sicherheit von Frauen und Mädchen garantieren. Der Rückzug aus der Konvention bewirkt jedoch genau das Gegenteil.

Die Istanbul-Konvention sieht einige lebenswichtige Schutzmechanismen für Frauen und Mädchen vor. Es ist der erste europäische Vertrag, der die Eindämmung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zum Thema hat. Die Konvention deckt alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt ab. Länder, die die Konvention ratifiziert haben, darunter auch Polen, sind verpflichtet, die Überlebenden der Gewalt zu schützen und zu unterstützen. Sie müssen zudem Dienstleistungen wie Notrufe, Frauenhäuser, medizinische Leistungen, Beratung und rechtlichen Beistand einrichten.

Bis heute hat die große Mehrheit der europäischen Staaten und der EU als Ganzes die Konvention unterzeichnet und 34 Länder haben sie ratifiziert. Allein 2018 trat die Konvention in neun Ländern in Kraft: in Kroatien, Zypern, Deutschland, Estland, Island, Luxemburg, Nordmazedonien und der Schweiz. 2019 ratifizierte auch Irland nach dem geschichtsträchtigen Referendum, das das fast völlige Abtreibungsverbot im Land beendete, den Vertrag.

Diskussion über Istanbul-Konvention auch in anderen Ländern Europas

Doch in manchen Ländern steht der Wunsch, sich aus der Konvention zurückzuziehen weit oben auf der Agenda. In der Türkei beispielsweise drücken Frauengruppen ihre Sorge darüber aus, dass angesichts der für den 5. August angesetzten Diskussion des Parteipräsidiums der Regierungspartei die Forderungen immer lauter werden, sich aus der Konvention zurückzuziehen und dies obwohl in den Medien breit von mehreren brutalen Morden an Frauen durch die Hand von Männern berichtet wird.

In anderen Ländern wie Bulgarien und der Slowakei und jüngst auch in Ungarn, haben die Parlamente die Konvention wegen eines falschen Verständnisses von ‚Gender‘ nicht ratifiziert und ignorieren bewusst die schädliche Wirkung von Geschlechterstereotypen, die Frauen und Mädchen in Gefahr bringen, Gewalt zu erfahren.

Ähnliche Missverständnisse blockieren die Ratifizierung der Konvention in der Ukraine. Dort sind die bestehenden Gesetze zur Bekämpfung häuslicher Gewalt bislang nur sehr mangelhaft umgesetzt. Auch wenn die Ratifizierung der Konvention nicht auf der Agenda des ukrainischen Parlaments steht, so hat sich das Land dem Thema nun doch zugewandt, nachdem 25.000 Personen eine Petition unterzeichneten, die den Präsidenten auffordert, den Vertrag zu ratifizieren.

2018 entschied das Verfassungsgericht von Bulgarien, dass die Konvention nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen sei und sorgte damit für die Fortführung von Missverständnissen zum Geltungsbereich und der Art des Vertrags, die nun immer weiter Schaden anrichten.

Der Anstieg häuslichen Gewalt während der COVID-19-Pandemie zeigt, dass die Regierungen weltweit den Schutz für die Rechte von Frauen und Mädchen stärken müssen.

Wenn Polen das Gegenteil täte, würde das Land eine verstörende Botschaft aussenden. Dass nämlich ein Leben ohne Gewalt für Frauen und Mädchen nicht länger eine Priorität darstellt.

Nils Muižnieks ist Europa-Direktor bei Amnesty International. Dieser Kommentar wurde auf Euronews erstveröffentlicht.

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