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Amnesty zu Polens Konfrontationskurs: Warschau ignoriert Entscheidungen des EU-Gerichtshofs

15. Juli 2021

Zusammenfassung

  • Bruch des europäischen Rechts
  • "Europäische Kommission sollte dringend Maßnahmen ergreifen, um die polnische Justiz zu schützen."
  • Aufruf an alle Staats- und Regierungschefs der EU, Polens Vorgehen scharf zu verurteilen und das Land aufzufordern, die Menschenrechte und das EU-Recht zu respektieren

Das polnische Verfassungsgericht erklärte am Mittwoch eine einstweilige Anordnung des EU-Gerichtshofs (EuGH) für unzulässig, die dieser zum Schutz der Unabhängigkeit der polnischen Justiz erlassen hatte. Die Anordnung sei nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar. Als Reaktion auf diese skandalöse Entscheidung sagte Draginja Nadaždin, die Direktorin von Amnesty International Polen:

Die gestrige Entscheidung, die faktisch darauf hinausläuft, dass Polen das EU-Gericht ignorieren kann, ist ein Bruch des europäischen Rechts. Sie öffnet sowohl politisch motivierten Strafverfahren als auch weiteren Disziplinarverfahren gegen Richter*innen in Polen Tür und Tor.

Draginja Nadaždin, Direktorin von Amnesty International Polen

„Der EU-Gerichtshof hat sowohl letztes Jahr als auch jetzt erneut entschieden, dass Polens Disziplinarkammer die Verfahren aussetzen muss, die sie gegen Richter*innen führt, weil Bedenken hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bestehen. Die gestrige Entscheidung zeigt eine eklatante Missachtung des höchsten EU-Gerichts.“

Der Richter Igor Tuleya ist für seinen Einsatz für die Unabhängigkeit der polnischen Justiz bekannt und bekommt nun die Konsequenzen zu spüren: Nach einem politisch motivierten Gerichtsverfahren wurde ihm von der Disziplinarkammer die Immunität entzogen. Amnesty International betrachtet ihn als Menschenrechtsverteidiger. „Die aktuelle Entscheidung [des Verfassungsgerichts] ist für die Bevölkerung in Polen und insbesondere für Richter Tuleya sehr gefährlich. Dieser riskiert nun eine Strafanzeige, nur weil er seinen Job macht“, sagte Draginja Nadaždin. „Die Europäische Kommission sollte dringend Maßnahmen ergreifen, um die polnische Justiz zu schützen. Sie kann nicht tatenlos zusehen, wie die polnischen Behörden den Menschenrechten und der Rechtsstaatlichkeit in der EU mit diesem politisierten Verfassungsgericht weiteren Schaden zufügen. Wir rufen alle Staats- und Regierungschefs der EU auf, dieses Vorgehen scharf zu verurteilen und Polen aufzufordern, die Menschenrechte und das EU-Recht zu respektieren.“

Hintergrund

Nach einer Reihe von Angriffen auf die richterliche Unabhängigkeit in Polen hat die EU-Kommission den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um eine einstweilige Verfügung zur Aussetzung der Tätigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs in Polen gebeten. Die im Rahmen der umstrittenen Justizreform 2017 eingerichtete Disziplinarkammer entscheidet unter anderem über Anträge auf Aufhebung der richterlichen Immunität. Am 8. April 2020 entschied der EuGH positiv über den Antrag. Am 14. Juli 2021 erließ der EuGH in einem zweiten Verfahren, das die Kommission am 1. April 2021 gegen das sogenannte „Maulkorbgesetz“ angestrengt hatte, eine neue einstweilige Verfügung. Dieses Gesetz ist seit vergangenem Februar in Kraft und sieht vor, dass polnische Richter*innen für Kritik an den bisherigen Justizreformen bestraft werden können.

Im November 2020 hob die Disziplinarkammer die Immunität des Richters Igor Tuleya auf, der am Regionalgericht in Warschau tätig war. Ihm droht nun ein Strafverfahren, weil er Medienvertreter*innen die Aufzeichnung einer öffentlichen Anhörung erlaubt hatte. Neben Igor Tuleya droht zahlreichen weiteren Richter*innen in Polen die Aufhebung ihrer Immunität durch die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs.