Loading...
© Grzegorz Żukowski

news © Grzegorz Żukowski

Der Tag, an dem die Gerechtigkeit siegte

4. November 2019

Hintergrund

Am 24. Oktober 2019 wurden 14 polnische Menschenrechtsverteidigerinnen freigesprochen, die vor zwei Jahren für Toleranz und gegen Hass demonstrierten und dafür angezeigt wurden.

Am 11. November 2017, dem polnischen Unabhängigkeitstag, hatten sich die 14 Frauen mit einem Banner auf die Straße nahe der Poniatowski-Brücke in Warschau gestellt. Inmitten einer Demonstration, deren Teilnehmer*innen rassistische Parolen schrien und ein „weißes Polen und Europa“ forderten, erhoben sie ihre Stimmen für Toleranz und gegenseitigen Respekt. Sie wurden angegriffen, verletzt und es folgte eine Strafanzeige wegen Störung einer Demonstration. Nach zwei Jahren Verfahren wurden sie nun freigesprochen!

Catrinel Motoc, Campaignerin für Menschenrechtsverteidiger*innen in Gefahr in Europa bei Amnesty International, war dabei und erzählt von der Verhandlung in Warschau.

Von Catrinel Motoc

Ich sitze mit angehaltenem Atem in einem Warschauer Gerichtssaal. Der Richter hatte vor der Urteilsverkündung eine zehnminütige Pause anberaumt.

Wir warten. Bei allen machen sich Hoffnung, aber auch Nervosität breit. Zurück im Gerichtssaal beginnt der Richter zu sprechen. Ich kann kein Polnisch, verstehe das Gesagte also nicht wirklich. Außer seiner Stimme ist nichts anderes zu hören. So, als ob alle den Atem anhalten.

Ich kam vor einigen Tagen in Warschau an und dachte, dass ich an einer der regulären Anhörungen im Fall gegen 14 Frauen teilnehmen würde, die 2017 ihre Stimme gegen den Faschismus in Polen erhoben hatten. Aber jetzt scheint es, als würde sich die heutige Sitzung zur wichtigsten von allen entwickeln.

Heute sollte sich entscheiden, ob die 14 mutigen Frauen schuldig gesprochen werden, eine rechtmäßige Versammlung gestört zu haben, oder nicht. Alles nur, weil sie gegen Hass protestiert hatten.

Catrinel Motoc, Campaignerin für Menschenrechtsverteidiger*innen in Gefahr in Europa, Amnesty International

Heute soll sich entscheiden, ob die 14 mutigen Frauen schuldig gesprochen werden, eine rechtmäßige Versammlung gestört zu haben, oder nicht. Alles nur, weil sie gegen Hass protestiert hatten.

Es ist fast genau auf den Tag ein Jahr her, seit ich sie zum ersten Mal getroffen habe. Geduldig haben sie mir diesen unvergesslichen Novemberabend, an dem sie sich gegen den Faschismus stellten, in allen Einzelheiten geschildert. Es war der 11. November 2017, auf dem jährlichen Marsch zum Unabhängigkeitstag in Warschau. Seit einigen Jahren wird diese Veranstaltung, auf der die Unabhängigkeit Polens gefeiert wird, zunehmend von der Dominanz nationalistischer Gruppen überschattet. Die Teilnehmenden tragen Fackeln, skandieren Parolen wie „Europa wird weiß oder aussterben“, zeigen rassistische, antisemitische und faschistische Symbole und werfen Feuerwerkskörper. Im Jahr 2017 entschieden die 14 Frauen, dass es an der Zeit war, etwas zu unternehmen.

Als sie ihr Banner mit der Aufschrift „Faschismus stoppen“ entrollten, löste ihr friedlicher Protest bei den Demonstrierenden Wut aus. Auf Videos ist zu sehen, wie sie getreten, bespuckt und angebrüllt werden. Unter Beschimpfungen wie „Hure!“ oder „linke Verbrecher!“ wurden sie gestoßen, geschubst, am Hals gepackt und auf den Boden gezerrt. Sie erlitten Prellungen und Schnittwunden. Eine der Frauen wurde zu Fall gebracht, verlor das Bewusstsein und musste medizinisch versorgt werden.

Die Behörden stellten die Untersuchung der Angriffe mit einer absurden Begründung schnell wieder ein. Daraufhin legten die Frauen im Februar 2019 Berufung ein und ein Richter ordnete die Wiederaufnahme der Ermittlungen an. Doch als ob die Verletzungen nicht genug wären: Jetzt wurden die Frauen selbst wegen Störung einer rechtmäßigen Versammlung angeklagt und sollten eine Geldstrafe zahlen! Und so begann ihr Kampf für Gerechtigkeit.

Diesen Kampf kämpfen sie nicht nur für sich selbst, sondern für Hunderte – wenn nicht Tausende – von anderen Demonstrierenden, die ähnlich behandelt wurden, nachdem sie Menschenrechtsverletzungen auf Protesten in ganz Polen angeprangert hatten.

© Grzegorz Żukowski

Faschismus stoppen. Einige der 14 Frauen in Polen. (c) Grzegorz Żukowski / Amnesty International

Jetzt, fast zwei Jahre später, sind wir im Gerichtsgebäude in Warschau. Um 13 Uhr erscheinen einige der Frauen vor dem Richter. Dann werden zwei Zeugen aufgerufen: ein Polizeibeamter und ein Ordner des Unabhängigkeitsmarsches. Ihre Worte beschreiben die Einzelheiten des fraglichen Abends: Die Aggression, die den Frauen entgegenschlug. Die Tritte, die Beleidigungen. Die Polizei, die erst kam, nachdem sie von den Frauen selbst gerufen worden war. Der Krankenwagen, in dem eine von ihnen behandelt wurde, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte. Der Versuch der Frauen, die erlittene Gewalt anzuzeigen – der damit endete, dass sie selbst angeklagt wurden.

Ich beobachte die Frauen. Ihre Gesichter zeigen eine Mischung aus Mut und Nervosität. Aber fühlen wir nicht alle dasselbe? Wir fragen uns alle, wie dieser Fall ausgehen wird.

Während der Verteidiger sein Abschlussplädoyer hält, muss ich daran denken, was er mir vor fast einem Jahr gesagt hat: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Warschau – einer Stadt, die beim Warschauer Aufstand [1944] von Faschisten dem Erdboden gleichgemacht wurde – wieder Zeiten geben wird, in denen Faschist*innen durchs Stadtzentrum marschieren, während diejenigen, die versuchen, sie daran zu hindern, dafür schuldig gesprochen werden.“

Die Frauen stehen eine nach der anderen auf, nennen ihren vollen Namen und erklären stolz, dass sie auf „nicht schuldig“ plädieren. Kinga, die letzte von ihnen, erzählt offen und eindringlich, was sie dazu gebracht hat, sich an besagtem Abend dem Hass entgegenzustellen: „Mein Großvater wurde in der Schlacht von ‘39 verwundet... Meine Mutter nahm am Aufstand teil... Mein Stiefvater war in der Heimatarmee in Kielce... Meine Großmutter arbeitete in einem Krankenhaus. Jetzt sind sie alle tot und ich bin froh darüber. Denn ich will nicht, dass sie sehen, was heute passiert.“

Ich kann der Urteilsverkündung nicht folgen, aber ich drücke die Daumen. Als ob das einen Unterschied machen würde. Aber ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Plötzlich höre ich erleichterte Seufzer um mich herum. Ich drehe mich zu meiner Kollegin um und frage, was der Richter gesagt hat. Und sie bestätigt: „Sie sind nicht schuldig! Sie sind nicht schuldig!“

Der Richter bestätigt die Rechte der Frauen auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Und vor allem sagt er den Frauen: 'Sie sind im Recht.'

Catrinel Motoc, Campaignerin für Menschenrechtsverteidiger*innen in Gefahr in Europa, Amnesty International

Kaum ist er fertig, bricht im Raum tosender Applaus aus und alle feiern.

Meine Emotionen überwältigen mich! Wie viele andere inspirierte auch mich die Entschlossenheit dieser Frauen, die niemals aufgegeben haben. Zwei Jahre lang haben sie gegen Anklagen gekämpft, die nie hätten erhoben werden dürfen. Und endlich versteht ein Richter, wie wichtig es ist, sich für das einzusetzen, was richtig ist.

Amnesty-Aktivist*innen aus der ganzen Welt haben Hunderttausende Briefe, Unterschriften und Appellschreiben an die polnischen Behörden geschickt – dieser Einsatz hat sich gelohnt! Hunderte Solidaritätsbotschaften gaben den Frauen die Kraft, ihren Kampf weiterzuführen.

Dieser Fall begann mit einer Ungerechtigkeit und endet in Gerechtigkeit. Und mit der Botschaft, dass Faschismus und Hass in Polen nicht toleriert werden.

erfolg

Erfolg: Freispruch für 14 mutige Frauen in Polen

Mehr dazu

Du möchtest regelmäßig Neuigkeiten von Amnesty erhalten?

Melde dich jetzt für unseren Newsletter an! Wir versorgen dich regelmäßig mit aktuellen Informationen.

Jetzt anmelden!