Deine Spende wird heute verdoppelt
Jede Spende bis zum 31. Dezember wird verdoppelt. So entfaltet dein Beitrag doppelte Wirkung und schützt weltweit die Rechte von Menschen in Gefahr.
Ein Genozid in der Schweiz? Genau das muss die Schweizer Regierung nun klären: Jahrzehntelang wurden der fahrenden Gemeinschaft der Jenischen Kinder weggenommen.
Von Baptiste Fellay
Vor 52 Jahren brachte die Zeitschrift „Der Beobachter“ den Skandal ans Licht: Das Kinderhilfswerk Pro Juventute hatte mehr als 50 Jahre lang Kinder von Jenischen den Eltern entrissen und in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht – im Auftrag der Behörden und mit finanzieller Unterstützung der Regierung. Die Jenischen sind ein Volk von Fahrenden, die vor allem im deutschsprachigen Alpenraum der Schweiz leben.
Erst 14 Jahre nach den Enthüllungen, am 3. Juni 1986, entschuldigte sich der Bundespräsident im Namen der Schweiz für das Unrecht. Der lange Prozess der Aufarbeitung ist aber auch 2024 noch im Gange. Denn im Sommer stellten jenische Organisationen einen Antrag auf Anerkennung des kulturellen Genozids an ihrer Gemeinschaft.
Das Ziel war die Entfremdung der Kinder von der jenischen Kultur und Sprache, indem sie von ihrem Umfeld getrennt wurden.
Thomas Huonker, Historiker und Spezialist für dieses dunkle Kapitel der Geschichte.
Im Europa der Zwischenkriegszeit waren eugenische Theorien verbreitet, die Charakter und Gesundheit auf genetisches Erbe zurückführten, oft in Verbindung mit rassistischen Vorstellungen. Ulrich Wille, Gründungsmitglied von Pro Juventute, war ein Freund von Nazi-Größen und Befürworter der Eugenik. Die Psychiater Joseph und Johann Benedikt Jörger lieferten psychiatrische „Expertisen“ zu den rassistischen Vorurteilen gegen Fahrende: Die jenische Bevölkerung sei minderwertig, von Natur aus kriminell und eine Ge-fahr für die öffentliche Ordnung; man müsse ihre Lebensweise „zum Verschwinden bringen“.
Deswegen gründete Pro Juventute auf Antrag des Schweizer Bundesrats das Projekt „Kin-der der Landstraße“: Bis in die 1970er Jahre wurden rund 600 Kinder ihren Familien weg-genommen. Die meisten wuchsen unter Bedingungen auf, in denen sie körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Viele von ihnen starben jung, manche begingen Suizid.
Eines der betroffenen Kinder war Uschi Waser, die ihrer Mutter kurz nach der Geburt entrissen wurde. Wie steht sie zu den „Wiedergutmachungsaktionen“? 1988 und 2018 wurden Beträge von bis zu 25.000 Franken an die Opfer gezahlt, die Jenischen werden mittlerweile als nationale Minderheit anerkannt. „Das ist nicht genug. Der Staat sollte die Kosten für gesundheitliche und soziale Probleme übernehmen, unter denen die Opfer lei-den“, sagt Waser.
Für sie ist vor allem Erinnerungsarbeit wichtig: „In den Schulen, in denen ich Vorträge halte, kennt man diese Geschichte nicht. Es ist unerlässlich, dass das Wissen über dieses Unrecht in den Unterricht integriert wird.“ Für Thomas Huonker ist klar, dass die Verfolgung der Jenischen mehrere Tatbestandsmerkmale des Völkermords gemäß der Uno-Genozidkonvention umfasst:
Eine Versöhnung ist nur möglich, wenn die Verfolgung der Jenischen als versuchter Genozid anerkannt wird – und die daraus folgenden Garantien gewährleistet werden.
Thomas Huonker, Historiker