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Text: Nina Apin
Die Britin Jo Berry verlor ihren Vater durch ein IRA-Attentat. Heute ist sie mit dem Mörder ihres Vaters befreundet. Gemeinsam setzen sie sich für Frieden und Versöhnung ein.
Als Jo Berry dem Mörder ihres Vaters gegenübersaß, stand zwischen ihnen ein Teller mit Keksen – und ein blutiger Konflikt. Im Jahr 2000 war das Karfreitagsabkommen, mit dem das Vereinigte Königreich, Irland und verschiedene nordirische Parteien den Bürgerkrieg in Nordirland beendeten, gerade mal zwei Jahre alt. „Ich saß in der einen Ecke des Sofas, er in der anderen, wir waren beide furchtbar nervös und versteckten uns hinter Höflichkeitsfloskeln“, erinnert sie sich. Eine Freundin von Berry hatte die Wohnung mit dem Sofa für das ungewöhnliche Treffen in Dublin zur Verfügung gestellt. Eine private Aussprache zwischen der Tochter des britischen Tory-Abgeordneten Sir Anthony Berry, der am 12. Oktober 1984 während einer Parteikonferenz im südenglischen Brighton von einer Bombe der Irish Republican Army (IRA) getötet worden war. Und dem IRA-Kader Patrick Magee, der die Bombe im Grand Hotel platziert hatte, wo sie nicht, wie beabsichtigt, die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher tötete, dafür aber Anthony Berry und vier weitere Politiker*innen und deren Angehörige. 16 Jahre nach dem „Brighton Bombing“ und ein Jahr nach der vorzeitigen Haftentlassung von Patrick Magee im Zuge des Friedensabkommens, saß Jo Berry also dem graubärtigen Brillenträger gegenüber, den sie bis dahin nur aus den Nachrichten kannte.
Ich hatte Angst vor dieser Begegnung, aber ich brauchte sie.
Jo Berry
Sie ist per Video aus ihrer Wohnung in England zugeschaltet. Ein kantig geschnittener Stirnpony rahmt ihr Gesicht, ihre Stimme klingt sanft und britisch-nasal. „Ich wollte dem Feind ein Gesicht geben können und zumindest versuchen, ihn als Menschen zu sehen und seine Beweggründe zu verstehen. Meiner Familie habe ich nichts davon erzählt, es war mein persönlicher Umgang mit dem Trauma, das ich erlebt hatte.“
Das Attentat hatte Jo Berry mit 28 Jahren zur Halbwaise gemacht, doch beschloss sie, an diesem schmerzhaften Erlebnis zu wachsen. Sie fühlte sich der Friedensbewegung zugehörig, identifizierte sich mit Mahatma Gandhis Idee der Gewaltfreiheit und wollte sich den Krieg der anderen nicht aufzwingen lassen. In den Folgejahren reiste Berry immer wieder nach Belfast und sprach mit Menschen auf beiden Seiten: protestantischen Unionist*innen und katholischen Republikaner*innen. Sie traf Überlebende und IRA-Unterstützer*innen. Die denkwürdigste Begegnung war die mit Patrick Magee. Jo Berrys Offenheit und Empathie machten auf ihn einen derart starken Eindruck, dass er irgendwann seine Ausführungen über den bewaffneten Kampf der unterdrückten Nordiren unterbrach, sich die Augen wischte und sagte: „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich möchte deinen Schmerz hören, deinen Zorn. Ich möchte helfen.“
Drei Stunden dauerte das Gespräch. Seither haben sich Jo Berry und Patrick Magee mehr als 300 Mal getroffen, inzwischen sind sie sogar befreundet. „Ich mag und schätze sie sehr“, sagt Patrick Magee über die Britin. „Er ist mir wichtig“, sagt sie über ihn. Die Geschichte ihrer Versöhnung und den Weg dorthin haben die beiden in den vergangenen Jahren bei vielen Gelegenheiten erzählt – in Stadthallen, Vortragssälen und Schulen. Von Belfast bis Tel Aviv, von London bis Kigali treten sie als Botschafter*innen für Frieden und Versöhnung auf. Als Jo Berry 2009 mit Building Bridges for Peace ihre eigene Friedensinitiative gründete, war Patrick Magee ihr erster Gast.
Jo hat mir geholfen, meine Menschlichkeit wiederzufinden.
Patrick Magee
Zwar könne er seine Taten nicht rückgängig machen, doch habe er es mit ihrer Hilfe geschafft, „den politischen Hut abzunehmen“ und zu verstehen, dass Anthony Berry möglicherweise ein Mann war, mit dem er unter anderen Umständen eine Tasse Tee getrunken hätte. „Meine Arbeit mit Pat hat mir gezeigt, welche Macht Empathie hat“, sagt Jo Berry.
Wir können die Versuchung, Gewalt anzuwenden, besiegen, indem wir beginnen, die andere Seite als Menschen anzusehen.
Jo Berry
Diesen Perspektivwechsel zu ermöglichen, ist Grundlage ihrer gemeinsamen Friedensarbeit. Berry und Magee vermitteln Gespräche zwischen Mordopfern und Täter*innen. Sie reisen in Länder wie Libanon, Ruanda oder Palästina, in denen Gewalt den Alltag prägt, erzählen dort ihre Geschichte und versuchen, einen respektvollen Gesprächsrahmen zu schaffen, in dem alle ihre Perspektiven zu Gehör bringen können. Ihr Credo: Es gibt keine Parteien, keine Gegner*innen oder Feind*innen, sondern „nur Menschen, deren Geschichten wir noch nicht gehört haben“.
Ein Stuhlkreis im Nahen Osten – ist das angesichts der aktuellen Gewalteskalation nicht naiv? Jo Berry runzelt die Stirn. Natürlich seien solche Gesprächsformate kein Ersatz für staatliche Diplomatie oder eine an humanitären Grundsätzen orientierte Politik. Aber, so betont sie: „Auch im Nahen Osten und selbst jetzt gibt es Menschen, die sich über politische, ideologische und religiöse Grenzen hinweg für Frieden und Verständigung einsetzen.“ Sie berichtet von ihrer Begegnung mit Aktivist*innen des Parents Circle-Families Forum, einer Organisation israelischer und palästinensischer Familien, die Angehörige im Nahostkonflikt verloren haben und gemeinsam zur Versöhnung aufrufen.
Bei den Friedensgesprächen von Building Bridges for Peace steht die persönliche Sicherheit der Teilnehmer*innen an erster Stelle. In manchen Fällen dauert die Vorbereitung des ersten Treffens ein Jahr. Denn zunächst werden die Ziele und Erwartungen der Teilnehmer*innen in Vorgesprächen eruiert. Erst wenn sicher ist, dass alle an einem echten Austausch interessiert und in der Lage sind, Rachegefühle und Hass hintanzustellen, wird ein Treffen arrangiert. Das Ziel formuliert Jo Berry so:
Als Menschen haben wir die Fähigkeit, wenn schon nicht mit dem Kopf, dann zumindest mit dem Herzen, den Schmerz des anderen zu hören und ihm Raum zu geben. Das geschieht viel zu selten auf der Welt.
Jo Berry
Den 40. Jahrestag des Brighton-Attentats verbrachte die Friedensaktivistin mit ihrer Familie. Vorher trat sie mit Patrick Magee bei einer Veranstaltung des Forgiveness Projects auf, einer gemeinnützigen Initiative, die sich dem Gedanken der Vergebung widmet. Für sie selbst sei Vergebung kein ausreichendes Konzept, da es keine Abkehr vom Freund-Feind-Schema garantiere, sagt Jo Berry. Doch leiste das Forgiveness Project viel für den friedlichen Dialog, der im Post-Brexit-Großbritannien mit seiner wieder auflodernden Nordirlandgrenzfrage nötig sei wie lange nicht. Außerdem sei sie bei dieser Veranstaltung wieder an den Ort zurückgekehrt, an dem ihre private Friedensreise begann: Am 14. Oktober 1984, zwei Tage nach dem Tod ihres Vaters, setzte sich Jo Berry auf die Steinstufen der St. James‘s Church in London und gab sich selbst das Versprechen, den Hass hinter sich zu lassen. Das ist ihr gelungen. „Ich bin mit mir im Reinen. Ich liebe Menschen und sehe in jedem die Menschlichkeit“, sagt sie fröhlich. Patrick Magee hat 2021 seine Memoiren veröffentlicht. Der Titel: „Where grieving begins“ („Wo Trauer anfängt“). Das Vorwort stammt von Jo Berry.