Deine Spende wird heute verdoppelt
Jede Spende bis zum 31. Dezember wird verdoppelt. So entfaltet dein Beitrag doppelte Wirkung und schützt weltweit die Rechte von Menschen in Gefahr.
Spätestens seit Beginn der russischen Invasion 2022 wird in der Ukraine verstärkt der Abbau sowjetischer Denkmäler im öffentlichen Raum vorangetrieben. Doch läuft die Ukraine Gefahr, dabei Teile ihrer eigenen Geschichte auszulöschen?
Zwei Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine liegt auf einem Hügel in Kyiw, nahe dem Fluss Dnipro, ein abgetrennter Kopf. Er war Teil einer acht Meter hohen Bronzefigur, die einen ukrainischen und einen russischen Arbeiter darstellte, die gemeinsam einen sowjetischen Freundschaftsorden in die Höhe hielten. Die Statue stand unter dem imposanten „Bogen der Völkerfreundschaft“, der 1982 zum 60. Jahrestag der Sowjetunion eingeweiht wurde.
Kyiws Bürgermeister Vitali Klitschko steht neben dem abgeschlagenen Kopf und spricht in die Mikrofone der anwesenden Journalist*innen: „Man tötet seinen Bruder nicht. Man vergewaltigt nicht seine Schwester. Man zerstört nicht das Land seines Freundes. Deshalb haben wir heute dieses Denkmal abgebaut, das einst als Zeichen der Freundschaft zwischen der Ukraine und Russland errichtet wurde.“ Weiter erklärt Klitschko, der Titanbogen bleibe bestehen, werde aber in „Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes“ umbenannt.
Daraufhin hebt ein Kran die gesamte Statue aus seiner Verankerung. Als sie allmählich auf den Boden absenkt, jubelt eine Menschenmenge „Slavyi Ukraini“ – Ruhm der Ukraine.
Die Aktion ist Teil einer Entwicklung, die seit einigen Jahren in der Ukraine zu beobachten ist: Das sowjetische Erbe wird abgebaut, um Platz für eine neue, unabhängige Identität zu schaffen. Die Zerstörung sowjetischer Denkmäler und die Umbenennung von Straßen wurden Teil der politischen PR. Was einst die sowjetische Einheit verherrlichte, steht heute für den Kampf der Ukraine, sich von einer Vergangenheit der russischen Vorherrschaft zu lösen.
Bereits während der Maidan-Proteste 2013 war die Zerstörung der Lenin-Statue auf dem zentralen Platz von Kyiw ein Schlüsselmoment. Ein Jahr später, nach der russischen Annexion der Krim, verabschiedete das ukrainische Parlament Gesetze zur „Entkommunisierung“, um Straßennamen zu ändern und sowjetische Denkmäler zu entfernen. Die russische Invasion 2022 verlieh diesem Vorhaben eine neue Dringlichkeit.
Währenddessen betreibt die russische Regierung in den von ihr besetzten ukrainischen Gebieten das Gegenteil, indem sie Statuen und Symbole aus der Sowjetzeit restauriert. Russische Soldat*innen zerstören zudem Gedenkstätten, die an die sowjetischen Verbrechen erinnern, wie beispielsweise das Holodomor-Denkmal in Mariupol, das an die Millionen Ukrainer*innen erinnert, die in der von Stalin inszenierten Hungersnot ums Leben kamen. All das macht deutlich: Die Ukraine kämpft nicht nur um territoriale Souveränität, sondern auch um die Deutungshoheit über ihre Geschichte.
„Die sowjetische Vergangenheit war für Menschen in der Ukraine schon immer ein emotionales und sensibles Thema“, erklärt die ukrainische Kuratorin und Historikerin Yevheniia Moliar.
Mit 56 ist die Zahl der Konflikte weltweit auf dem höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Laut dem Global Peace Index des Instituts für Wirtschaft und Frieden ist unsere Welt im Jahr 2024 zum zwölften Mal in den letzten 16 Jahren weniger friedlich geworden. Während sich der Frieden in 65 Ländern verbessert hat, hat er sich in 97 Ländern verschlechtert. Die Konflikte im Nahen Osten sowie zwischen Russland und der Ukraine tragen maßgeblich zum Rückgang des Weltfriedens bei.
Besonders alarmierend sind die humanitären Folgen: In den Jahren 2022 und 2023 starben insgesamt mindestens 464.009 Menschen in bewaffneten Konflikten. Laut UNHCR waren mit Ende Mai 2024 weltweit 120 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Konflikten und Verfolgung – mehr als die Bevölkerung Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und der Niederlande zusammen.
2,44 Billionen US-Dollar wurden im Jahr 2023 für militärische Zwecke ausgegeben. Das sind inflationsbereinigt 6,8 Prozent mehr als im Vorjahr, der neunte Anstieg in Folge und damit ein neuer Höchststand.
Quelle: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI)
= sollen dazu beitragen, Gesellschaften nach externen oder internen Gewaltkonflikten zu stabilisieren, Frieden zu sichern oder die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Im Jahr 2023 gab es weltweit 63 aktive Friedenseinsätze. Auch Österreich engagiert sich als Mitglied internationaler Organisationen aktiv in der Friedensförderung. Seit 1960 hat sich Österreich mit über 100.000 Soldat*innen und Helfer*innen an mehr als 100 Missionen beteiligt, unter anderem in Bosnien, Kosovo und dem Libanon.
Quelle: bunderheer.at, SIPRI
Nur 13 % aller Verhandler*innen bei Friedensabkommen sind weiblich. Dabei zeigt die Erfahrung, dass Friedensabkommen, an denen Frauen aktiv beteiligt waren, eine 20% höhere Wahrscheinlichkeit haben, länger als zwei Jahre zu halten.
Quelle: UN-Women
„Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann die propagandistische Bedeutung von sowjetischen Bauten zu verblassen. Als ich aufwuchs, war der Freiheitsbogen nur ein weiteres Denkmal und einer unserer Lieblingsorte, an dem wir uns mit Freund*innen trafen oder einfach nur spazieren gingen.“
Doch der Krieg habe diese Denkmäler wieder politisiert. „Die russische Propaganda gab diesen Denkmälern ihr politisches Potenzial zurück“, so Moliar.
Die Historikerin arbeitete als Teil einer Kommission im Auftrag des ukrainischen Kulturministeriums, die sowjetische Denkmäler katalogisierte und Empfehlungen zum Umgang mit ihnen abgab. Die Kommission plädierte für den Erhalt der Denkmäler als kulturelles Erbe der Ukraine. Solche Vorschläge stoßen jedoch auf großen Widerstand, erklärt Moliar: „Leider wurden einige unserer Empfehlungen ignoriert. Die einzigen Stimmen, die gehört werden, sind die, die Abriss und Zerstörung fordern.“
Während die Ukraine sowjetische Denkmäler beseitigt, zeigt sich ein Widerspruch. In der Ukraine wird das sowjetische Erbe oft als russisches Erbe betrachtet. Doch sowjetisch ist nicht gleichbedeutend mit russisch, argumentiert Moliar:
Die russische Propaganda behauptet, sie stünden für eine russische Geschichte der Ukraine. Viele dieser Denkmäler wurden jedoch von ukrainischen Künstler*innen geschaffen.
Yevheniia Moliar, ukrainische Kuratorin und Historikerin
Wer dieses Kulturerbe auf russische Kultur reduziert, tappt in die Falle der Propaganda, erklärt sie weiter: „Die Auslöschung dieser Symbole könnte bedeuten, dass ein Teil unserer kulturellen Identität verloren geht.“
Die Herausforderung bestehe darin, dieses Erbe als ukrainisch anzuerkennen und gleichzeitig die Propaganda und Manipulation zu erkennen, die damit einhergehen, so Moliar. „Das Problem ist, dass nach dem russischen Angriff auf die Ukraine viele diese Unterscheidung nicht mehr machen wollen. Es ist schwer, über den Erhalt dieser Denkmäler zu sprechen, wenn sie mit dem Aggressor in Verbindung gebracht werden.“
In Kriegszeiten hat die Entfernung sowjetischer Denkmäler zusätzliche Bedeutung. Während sich die Ukraine gegen die russische Aggression wehrt, wird die Zerstörung dieser Symbole zu einem Akt der Rebellion gegen die imperialistischen Ambitionen des Kremls, so Molina:
Der Abriss sowjetischer Statuen ist nicht nur die Beseitigung eines Stücks Geschichte. Es ist ein symbolischer Sieg. Sie zu zerstören, hat fast einen magischen Charakter – man kann damit seinen Feind zu Fall bringen.
Yevheniia Moliar, ukrainische Kuratorin und Historikerin
Die Herausforderung der „Entkommunisierung“ besteht jedoch darin, dabei ein Ende zu finden. „Es ist leicht, damit anzufangen, aber fast unmöglich, es abzuschließen“, sagt Molina.
Die Sowjetzeit ist ein integraler Bestandteil der Geschichte des Landes und der modernen ukrainischen Identität. Die Spuren davon finden sich nicht nur in Denkmälern und der Architektur, sondern auch in der Stadtplanung, in Landschaften oder sogar in persönlichen Dingen wie Haushaltsgegenständen und Fotoalben von Familien.
Trotz der Bemühungen, das Land von seiner sowjetischen Vergangenheit zu distanzieren, prägen diese Überbleibsel weiterhin die kulturelle Landschaft des Landes in einer Weise, die sich nicht vollständig auflösen lässt.
Angesichts dessen, haben einige zeitgenössische ukrainische Künstler*innen über die letzten Jahre begonnen, sowjetische Denkmäler neu zu interpretieren. So plakatierte der Künstler Volodymyr Kuznetsov schon 2018 einen Riss auf den Bogen in Kyiv und taufte ihn „Riss der Freundschaft“.
Auch Museen könnten eine Rolle spielen, um die Mechanismen der Propaganda aufzuarbeiten und eine differenzierte Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit zu ermöglichen. Vielleicht könnten Museen aktuell auch die einzige Möglichkeit sein, die sowjetischen Denkmäler zu erhalten.
„Vor ein paar Jahren ging es darum, Wege für den kulturellen Erhalt sowjetischer Denkmäler zu finden. Aber durch den Krieg hat sich alles verändert“, so Molina. Die Einrichtung eines Museums zum sowjetischen Erbe wäre eine Alternative für die öffentliche Diskussion. Bisher gibt es so etwas nur vereinzelt.
Es ist entscheidend, dass die Ukrainer*innen die Mechanismen der Propaganda verstehen, die ihre Geschichtswahrnehmung beeinflusst haben.
Yevheniia Moliar, ukrainische Kuratorin und Historikerin
„Nur wenn wir lernen, die Vergangenheit als komplexes Gewebe zu sehen, statt sie in einem binären Narrativ festzuschreiben, können sowjetische Denkmäler aufhören, als Bedrohung wahrgenommen zu werden, und stattdessen als Gelegenheit zur Reflexion und Reklamation dienen.“
Die Diskussion über den Freiheitsbogen geht währenddessen weiter. Der vollständige Abbau des Bauwerks wurde in den letzten Jahren erwogen, zuletzt jedoch Ende April aufgegeben. Nach Ansicht des Kulturministeriums der Kiewer Stadtverwaltung wurde die Bedeutung des Bogens „neu überdacht” und der Platz soll umgestaltet werden.